Nepal: In Motorradstiefeln um den Manaslu (1/2)

MANASLU von Osten

Blick auf den Himalaja-Bergriesen MANASLU von Osten, Nepal 2017 © emmenreiter.de

Aufwachen in Kathmandu

31. März 2017. „Guten Morgen Kathmandu!“ Wir sind gestern erst spät abends hier angekommen und hatten uns schon auf diesen Moment gefreut: Die erwachende Stadt breitet sich vor unserem kleinen Balkon im Avalon Guesthouse aus. Das Meer aus schmalen und vorwiegend maroden Häusern reicht bis an die Berge. Ein schlanker Hund liegt unten an der Kette und winselt herzzerreißend. Lichtblick ist der saftiggrüne Gemüsegarten – in Nachbarschaft zu unserem kleinen Hotel. Wir sind jetzt schon zum dritten Mal in Nepal und immer wieder erschüttert und gleichzeitig fasziniert von dieser unverwechselbaren, fremden Welt.
Kambodscha rückt genauso schnell in den Hintergrund wie uns das Flugzeug an den Himalaja gebracht hat. Es war öde, in der Troposphäre zu reisen. Flughäfen sehen doch alle gleich aus. Aber nun sind wir im Land der Gipfel und Götter, die Temperaturen sind sehr angenehm und wir können unser nächstes Abenteuer anpacken.
Das wahre Nepal erreicht man nur zu Fuß. Und wir haben uns diesmal vorgenommen, den Manaslu zu umrunden – mit 8.163 Metern der achthöchste Berg der Erde. Diese Route ist noch nicht so populär und kommerzialisiert wie die quasi nebenan verlaufende Annapurna-Runde. Erst seit ein paar Jahren braucht man dafür keine Zeltausrüstung mehr. Man startet im suptropischen Tiefland und läuft über eine alte Handelsroute in zwei bis drei Wochen gegen den Uhrzeigersinn um den Bergriesen herum. Die ersten Tage geht es durch eine gewaltige Schlucht am Budi Gandaki Fluss entlang nach und nach bergauf. Gegen Ende der Wanderung muss der eingeschneite Larke-Pass überwunden werden. Wie hoch der Pass ist, scheint keiner genau zu wissen. Die Angaben liegen irgendwo zwischen 5.100 und 5.200 Metern. Noch nie sind wir so lange und so hoch gewandert.
Am dritten Tag in Kathmandu sitzen wir im winzigen, fensterlosen Büro von Madan inmitten des Touristenviertels Thamel. Wir treffen Madan zum allerersten mal. Er hat eine unglaublich freundliche Ausstrahlung und empfängt uns wie einen Freund. Wir hatten ihn im Vorfeld übers Internet damit beauftragt, alle Genehmigungen zu besorgen, die wir für die Manaslu-Wanderung vorweisen müssen. Außerdem hat er den gesetzlich vorgeschriebenen Bergführer für uns engagiert. „Lasst uns zusammen Tschai trinken!“ lädt er uns herzlich ein. Bis die heißen Tassen auf seinem Schreibtisch stehen, erzählen wir ihm vorfreudig, dass wir unsere Rucksäcke, die wir in Thamel ausgeliehen haben, bereits gepackt haben. Ob wir auch „crampons“ dabei hätten, will Madan wissen. Er meint leichte Steigeisen. „Äh… nein.“ So eine spezielle Ausrüstung kam uns nicht in den Sinn. „Aber wir haben gestern unsere Motorradstiefel beim Schuhputzer aufpimpen lassen.“, sage ich. „Um diese Zeit wird es auch ohne Steigeisen gehen.“, schiebt Madan schnell hinterher. Falls nicht, wisse unser Bergführer an Ort und Stelle ganz sicher eine Lösung. „Wie ist denn derzeit das Wetter am Manaslu?“ frage ich etwas verunsichert. Bisher sei es ungewöhnlich schlecht gewesen. „Die meisten Leute mussten umkehren.“, erzählt Madan. Erst vor ein paar Tagen seien die ersten Wanderer über den Pass gekommen. „Macht Euch keine Sorgen. Ihr werdet Glück mit dem Wetter haben!“ verabschiedet uns Madan, als die Teetassen leergetrunken sind. Und aus seinem Munde glauben wir es sogar.
Morgen früh um 7:15 Uhr wird uns also Bergführer Bhim am Hotel abholen. Bhim Gurung – in Nepal trägt man seine Volksgruppe als Nachnamen. Wir hatten ihn schon kurz bei Madan im Büro getroffen. Er ist 27 Jahre alt, stammt aus einem Bergdorf am Anfang der Manaslu-Runde und wird uns die nächsten 19 Tage als zertifizierter Trekkingguide begleiten. Außerdem wird er einen Großteil meines Gepäcks tragen, etwa zehn Kilogramm. Mein Tagesrucksack wiegt dann nur etwa fünf, sechs Kilo – je nachdem, wie viel Wasser gerade in unseren Trinkflaschen ist. Micha trägt einen Rucksack, der etwa doppelt so schwer ist wie meiner.

Pokhori: Bhim nimmt uns mit in sein Heimatdorf

3. April 2017. Heute soll es losgehen. Beim Aufwachen grummelt es verdächtig in meinem Bauch. „Das kann nicht wahr sein!“ fluche ich. Vor uns liegen acht Stunden Busfahrt und ich renne dank Durchfall gleich mehrmals zum Klo. Die nächste Toilette, die ich heute morgen aufsuchen muss, ist der öffentliche Notdurft-Verschlag am Busbahnhof – eine dunkle, stinkende Hütte in einer modrigen Ecke hinter den parkenden Bussen. Dieses Örtchen hat sogar meinen Darm davon abgehalten, sich nochmals zu melden.
Unser Langstreckenbus ist außen der Länge nach mit einem großen Flugzeug bemalt. Das verspricht eine rasante Fahrt. Aufkleber an der Heckscheibe versprechen außerdem Komfortsitze, ABS, Wifi und LED-TV. Nichts davon ist wahr. Wir steigen ein und lassen uns in die ausgesessenen Sitze plumpsen – gar nicht mal so unbequem. Die Fensterscheibe lässt sich aufschieben, falls einem schlecht wird. Am Stadtrand von Kathmandu, an dem wir über eine Stunde später angekommen sind, ist unser Bus vollgepackt mit Menschen und Gepäck. Micha und ich bleiben die einzigen Touristen.
Je näher wir unserem Ziel entgegenfahren, desto kurviger und spannender wird die Route und immer mehr Plastiktütchen für Kotze werden verteilt. Die fliegen während der Fahrt, sobald sie voll sind, im hohen Bogen durch die offene Bustür nach draußen. Zum Glück haben Micha und ich eine Reisetablette geschluckt, die außerdem schön schläfrig macht. Am späten Nachmittag hält der Bus endlich in Arughat an. Unsere Körper sind schlaff, wir stolpern aus dem Bus und wanken Bhim hinterher zur ersten Unterkunft.
Am nächsten Morgen um 7:45 Uhr sind wir Drei ausgeruht und startklar für die Manaslu-Umrundung. Der kleine Ort Arughat liegt niedriger als Kathmandua, auf etwa 550 Metern, und das Wetter ist hier hochsommerlich warm. Wir tragen leichte T-Shirts und haben die Hosenbeine unserer Wanderhosen am Kniereißverschluss abgetrennt. Nach einer halben Stunde auf ebener Strecke biegen wir im nächsten Ort Arket nach oben auf die Berge westlich des Budhi Gandaki Flusses ab. Hier liegt der Gorkha-Distrikt, von dem sich auch der Name der berühmten Gurkha-Soldaten ableitet.
Bhim zeigt auf ein entferntes Dorf in der Höhe: „Das ist Pokhori. Und dort ist mein Haus!“ Das sieht nicht unbedingt weit aus. Von jetzt an geht es allerdings stundenlang etwa 900 Höhenmeter bergauf – über Steintreppen und schmale Pfade. Wir kommen alle schnell ins Schwitzen. Bhim legt zum Glück immer wieder eine „Trinken-Pausi“ ein. Und ab und zu auch eine „Pippi-Pausi“. Er mag unsere Sprache und hat von anderen deutschen Wandertouristen ein paar Wörter aufgeschnappt.
Die winzigen Dörfer, die wir auf dem Weg bis zu Bhims Zuhause passieren, sind durch das landesweite Erdbeben im April 2014 komplett zusammengefallen. Provisorische Behausungen mit dünnen, blauen Wellblechplatten als Dach haben die traditionellen Stein- und Lehmhäuser ersetzt. „Diese Dörfer waren vorher sehr schön!“ sagt Bhim. Genau wie sein Dorf Pokhori – das Epizentrum des Bebens lag nur einen kurzen Spaziergang von dort entfernt.
Bhim hat seine Frau und seinen vierjährigen Sohn seit einem Monat nicht gesehen. Je näher wir seinem Dorf kommen, desto gelöster wirkt er. Als wir in Pokhori einlaufen, bringt er uns zu einer kleinen Hütte, in der Micha und ich übernachten dürfen. Dann stellt er uns einen Kanister Quellwasser vor die Tür, damit wir uns nach dem schweißtreibenden Anmarsch in Ruhe frisch machen können. Bhims junge Frau Kopila bringt kurze Zeit später einen Teller frisch gekochte Pellkartoffeln und schwarzen Tee zur Stärkung vorbei. Sie spricht ebenfalls etwas Englisch und so können wir ein paar Worte austauschen.
Als uns Bhim durch sein Dorf führt, folgt uns eine fröhlich kichernde Kinderschar. Ihre dunkelbraunen Augen funkeln vor Neugier. In ihren Badelatschen hüpfen sie wie Bergziegen über Stock und Stein.
Eine Gruppe Männer häutet und zerlegt gerade einen gewaltigen, geschlachteten Wasserbüffel auf einer Plastikplane auf dem Gras. Heute ist ein hinduistischer Festtag und das Fleisch wird unter den Dorfbewohnern aufgeteilt. Kopila hat ebenfalls etwas für das Abendessen abgeholt. Mit Reis, Linsensuppe und Büffelgulasch im Bauch legen wir uns später dankbar in unserer kleinen Lehmhütte schlafen. Nachts poltern die Ratten über das Wellblechdach. Jetzt leuchtet uns auch ein, warum Bhim auf das traditionelle Strohdach schwört.
Morgens steht Bhims kleine Nichte Alisa vor der Tür und wartet gespannt darauf, dass wir endlich aufstehen. Sein Sohn hat sich traurig in Kopilas Schoß zurückgezogen – er möchte nicht, dass Papa schon wieder geht.
Nach einem kräftigen Frühstück mit Bratkartoffeln, Omelette und Brot verabschieden wir uns von der Familie und den Kindern, zeigen uns erkenntlich und freuen uns auf einen weniger anstrengenden Wandertag als gestern. Noch merken wir keinen Muskelkater in den steifen Waden, aber ich ahne, dass der noch kommen wird.

„Gehn` ma langsam!“

Heute geht es nach Lapubesi, das wir in vier, fünf Stunden über einen Pfad mit eher sanftem Auf und Ab erreichen – hätte nicht vor ein paar Tagen ein gewaltiger Erdrutsch den Weg blockiert. Das erfahren wir aber erst im übernächsten Dorf. Dort findet Bhim außerdem heraus, dass wir einen langen Umweg gehen müssen: Erst ganz runter zum Fluss, auf der anderen Seite wieder mehrere hundert Höhenmeter herauf, später wieder steil zum Fluss hinab und nochmal auf der anderen Seite nach oben. Meine Beine fühlen sich zwischendurch wie Gummi an. Wir sind unterwegs so durchgeschwitzt und durstig, dass wir kaum noch den Chlorgeschmack wahrnehmen, den die Wassertabletten in unseren Trinkflaschen hinterlassen.
Als wir vor der zweiten langen Hängebrücke des Budhi Gandaki Flusses stehen und hinüber auf die andere Uferseite mit den allerletzten, unerbittlich steilen Höhenmetern blicken, ist mir nicht klar, wie wir dort am Berg hinauf gelangen sollen. „Wo ist denn der Pfad nach oben?“ frage ich Bhim, noch bevor ich die Brücke betrete. Bhim weiß es auch nicht so genau und deutet mit dem Zeigefinger eine grobe Zickzacklinie an. Der Berghang ist unwegsam und viel zu steil. „Wenn das der Weg nach Lapubesi sein soll, dann kehre ich an dieser Stelle um!“ sage ich zu Micha. Bhim und er laufen los über die Brücke. Ich folge ihnen zögerlich. Auf der anderen Seite sehen wir erleichtert, dass rechter Hand ein schmaler, steiniger Pfad abzweigt. Der ist immer noch schwierig und ich keuche vor mich hin, aber wir sind alle drei froh, dass wir es fast ans Tagesziel geschafft haben.
Nach insgesamt über neun Stunden Berg-auf-Berg-ab beziehen wir eine hübsche einfache Lodge in Lapubesi (970 Meter). Kurz darauf braut sich ein erfrischend kühles Gewitter über uns zusammen. Die Anstrengung des Tages hat nicht nur unsere Körper, sondern auch unseren Geist erschöpft und grinsend wie Betrunkene genießen wir unseren wohlverdienten Feierabend.
Am nächsten Morgen ist es dann soweit: Fieser Muskelkater hat unsere Waden im Griff und nach dem Aufstehen laufe ich wie eine alte, kranke Frau zum Klohäuschen. Nach Omelette und einer Schale Haferbrei, die mir nur beim Wandern in Nepal schmeckt, fordert uns Bhim mit dem deutschen Satz „Gehn` ma langsam!“ munter zur dritten Etappe auf. Aua, die ersten Schritte schmerzen.
Und wieder ist es ein herrlich sonniger Tag. Mehrere bepackte Muli-Karawanen kommen uns auf dem schmalen Weg entgegen. Sobald man die Glöckchen des Leittieres hört, heißt es, schnell auf die Bergseite auszuweichen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Tiere jemanden versehentlich den Abhang hinunterschubsen. Etwa tausend Mulis gibt es in der Gorkha-Region, die überwiegend den Warentransport in die Dörfer übernehmen. Trotzdem begegnen wir noch so einigen Männern und auch Frauen, die riesige Lasten nach oben buckeln: zusammengerollte Wellblechplatten, türgroße Spanplatten, Bretter, Metallgefäße… nichts scheint ihnen zu sperrig zu sein.
Die Route führt heute ein Stück durch das halbtrockene Flussbett. Zweimal müssen wir durch das eiskalte Schmelzwasser des Manaslus waten. Den Füßen, die stundenlang in den Stiefeln stecken, tut es gut. Um halb zwei haben wir bereits das Tagesziel erreicht: Kholabesi. Nach dem Wäschewaschen am Fluss haben wir kaum noch Lust, uns zu bewegen.
Auf der vierten Tagesetappe nach Jagat – ein hübsches Steinhausdorf auf 1.340 Metern – quälen uns die Waden immer noch. Der frühe Morgen ist wie der Abend mittlerweile ziemlich frisch und die Fleecepullis werden aus dem Rucksack gekramt. Das Leder meiner Schuhe ist an manchen Stellen rissig und ich fette sie wenigstens mit etwas Sonnencreme ein. Geduldig laufen wir dem Manaslu entgegen – noch drei Tagesetappen, bis wir ihn das erste Mal erblicken können.
Unsere nächste Schlafstätte, Pewa (1.800 Meter), liegt mitten in einer dicht bewaldeten Schlucht. Unten rauscht der Fluss. Ein Felsbrocken stürzt vor unseren Augen vom Abhang ins Wasser und der Aufprall kommt einer kleinen Explosion gleich.
Unsere heutige Schlafkammer in der Lodge riecht wunderbar nach Holz. Die breiten Dielen knarren und von unten steigt etwas Feuerrauch durch die Ritzen zu uns hoch. Durch die Spalten der Holzbretterwände schimmert das schwächer werdende Tageslicht. Die Unterkunft ist spärlich, aber urgemütlich. Nach einer heißen Dusche aus dem Eimer über dem Hockklo serviert uns der Koch der Lodge das beste Dal Bhat, das wir je gegessen haben. Auch Bhim ist sehr glücklich darüber. Wie bei vielen seiner Landsleute landet das hiesige Nationalgericht täglich mit den Fingern der rechten Hand in seinem Mund. „Nur wenn ich Dal Bhat esse, habe ich Energie!“, schwärmt er.
11. April 2017. Bhim hat sich trotz des guten Essens leider etwas erkältet. Er lässt sich nichts anmerken und trägt den Rucksack tapfer über die Berge. „Heute haben wir noch mal einen langen Weg vor uns.“ sagt er. Kurz hinter Pewa beobachten wir eine große Gruppe Languren, die am Berghang herumklettert und sich in der wärmenden Morgensonne gegenseitig laust. Hier und dort stürzen rauschende Wasserfälle in den wilden Fluss. Obwohl wir heute neun Stunden unterwegs sind, begegnen wir nur ganz wenigen Mulis und fast gar keinen anderen Leuten. Allerdings entdecken wir zum ersten Mal ein Blauschaf, das eigentlich eine große Ziege ist. Es ist unglaublich, welche Felswände diese Himalaja-Vierbeiner ruckzuck hinaufklettern können.

Namrung: Ein Dorf, wie aus der Zeit gefallen

Namrung (2.630 Meter) ist das erste tibetisch geprägte Dorf auf unserer Manaslu-Umrundung, dessen Dächer wir gegen halb fünf erleichtert erblicken. Mit jedem Tag gehen wir weiter zurück in die Vergangenheit. Namrung erscheint uns wie eine lebendige Kulisse aus dem Mittelalter. Die Familien leben in einfachen Felssteinhäusern in einem großen Raum zusammen. Das Herzstück ist die Feuerstelle. Unten im Haus befindet sich der Stall fürs Vieh. Wasser gibt es nur außerhalb. So leben die Menschen hier schon seit Ewigkeiten.
Wir legen einen wohlverdienten Pausentag ein und spazieren am nächsten Tag durch Namrung. An der buddhistischen Gebetsmauer hält ein älteres Ehepaar gerade eine kleine Zeremonie ab. Dabei verbrennen sie Wacholderzweige. Der dichte Rauch soll böse Geister beschwichtigen. Wir begegnen einem Großvater im traditionellen Wintermantel. Er deutet uns an, ihm zu folgen. Neugierig laufen wir hinterher. Er öffnet ein Holztor. Dahinter liegt der alte Gompa des Dorfes – ein kleiner, tibetischer Tempel. Immer noch wortlos kramt der Alte einen großen Schlüssel hervor, öffnet damit die bunt verzierte Tür des Gompas und bittet uns hinein. Ein großer Sonnenstrahl fällt durch ein eingestaubtes Fenster in den dunklen Raum. Die Staubkörner tanzen in seinem Licht. Es riecht nach einer Mischung aus Räucherstäbchen und antikem Kleiderschrank. Der geschmückte Buddha-Altar, die Holzbänke der Mönche, die länglichen Gebetsbücher in den Regalen, die große Ledertrommel, die verblassten Malereien an Decke und Holzwänden – alles wirkt mystisch und hunderte Jahre alt.
Als wir unseren Spaziergang fortsetzen, laufen wir an einer Tibeterin vorbei, die vor dem Haus im Schneidersitz mit ihren kräftigen, bloßen Händen Schafwolle zu einem Faden spinnt. Wir folgen einer jungen Frau, die mit einem geflochtenen Korb auf dem Rücken zügig zwischen den steingrauen Häusern dorfabwärts läuft. In einer kleinen Wassermühle sitzt ein Mann und röstet Maiskörner über einem Feuer, bevor er sie von den drehenden Mühlsteinen zermahlen lässt.
Auf einer Ebene etwas oberhalb des Dorfes sind Familien gerade dabei, mit Hilfe ihrer starken Bergrinder die dunkelbraunen Terrassenfelder zu pflügen und neuen Mais auszusähen. Der Wind weht die ausgetrocknete Erde hinter den altertümlichen Holzflügen in die Luft. Der düngende Viehmist wird in Körben auf die Felder getragen. Die Bauern und ihre Kinder freuen sich, als wir sie auf dem Feld besuchen.
Am späten Nachmittag treffen wir Lakpa. Er hat 16 Jahre lang als erfolgreicher Geschäftsmann in Singapur gearbeitet und kehrte nach mehreren Jahrzehnten in sein Heimatdorf zurück. Er war erschrocken, wie arm die Menschen in Namrung noch immer leben. Nichts habe sich geändert, seitdem er als verarmter Junge sein Zuhause verließ. Er hat sich zur Aufgabe gemacht, der Region zu helfen, stärker vom Berg- und Wandertourismus zu profitieren. Gleichzeitig möchte er den Spagat schaffen, die besondere Kultur und Identität zu bewahren. Nach dem zerstörerischen Erdbeben vor zwei Jahren fiel der historische Dorfkern von Namrung, in dem vor etwa 700 Jahren das Oberhaupt des Hochtals lebte und regierte, in sich zusammen. Lakpa hat die Geschichte des königähnlichen Herrschers rekonstruiert, viele noch erhaltene Gegenstände aus dieser Zeit in der Region zusammengetragen und den „Königspalast“ mit seinem Geld wieder mühsam aufgebaut. In einem halben Jahr wird dieser Teil des Dorfes als Museum eröffnet.
Wir stehen jetzt mit Lakpa in der damaligen Wohnstätte des Königs – ein bescheidenes Steinhaus wie alle anderen, an dem nichts prunkvolles erkennbar ist. Der flache, fensterlose Raum ist voller Schätze, die Lakpa hier noch unter einer Plane und in Holzregalen aufbewahrt. Plötzlich halte ich die Filzschuhe des damaligen Königs in meiner Hand. Dann eine verzierte Silberkanne. Eine 2000 Jahre alte Teekanne aus Stein. Jetzt bloß nichts fallen lassen! Zwischen der Sammlung liegt außerdem ein Teil der Ausrüstung von der Erstbesteigung des Manaslus vor über 60 Jahren. Das müsse erst noch alles restauriert werden, sagt Lakpa, der in seinem Projekt, von dem bald alle Bewohner profitieren sollen, unermüdlich ist. Woher haben Leute wie Lakpa diese unglaubliche Energie? Neben dem Dorfmuseum errichtet er außerdem gerade ein kleines, stilvolles Ressort. Die Bauarbeiten sind in vollem Gange. Damit möchte er Touristen, die sich für die Region interessieren und auf Komfort nicht verzichten wollen, nach Namrung locken. Wahrscheinlich hat Lakpa einen guten Weg für seine Heimat gefunden. Er liebt dieses Dorf, hat eine klare Vision und konnte auch die skeptischen Bewohner davon überzeugen.

Welcome to Manaslu – der Berg des Geistes

Als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg nach Lho (3.520 Meter) machen, hat Micha ein Dauergrinsen im Gesicht. Wir haben riesiges Glück mit dem Wetter und durchwandern diese fantastischen Landschaften und Bergdörfer – entlang an tibetischen Gebetsmauern und durch reich verzierte Chörten. Wir sehen den Menschen bei ihrem so anderen Alltag zu. Die raue Trockenheit und scharfe Sonne hat Spuren in ihren freundlichen, tibetischen Gesichtern hinterlassen.
Und dann taucht er vor unseren Augen auf: Der perfekt geformte „Berg des Geistes“. Der Manaslu mit seinen zwei Gipfelspitzen ist komplett verschneit und sein strahlendes Weiß zeichnet sich wie ein Scherenschnitt vom tiefblauen Himmel ab. Von unserer Lodge in Lho können wir direkt auf diesen Berg gucken – sogar vom Bett aus. Und Tibet ist von hier aus auch ganz nah, nur zwei Kilometer entfernt.
Im Zimmer nebenan haben Marc und Ursula ihre Wanderrucksäcke abgestellt. Sie sitzen jetzt mit einer Kanne Tee auf dem Holzbalkon in der warmen Nachmittagssonne und genießen diesen besonderen Ausblick. Wir kommen schnell ins Gespräch und von nun an werden wir uns bis zum Ende dieser spannenden Wanderung immer wieder begegnen.

Ritual mit Mönchen in einem Wohnhaus auf dem Weg nach Lho © emmenreiter.de

Der Morgen ist kalt in Lho. Ich krabbel nur sehr ungern aus meinem warmen Schlafsack. In der langen Merinounterwäsche haben sich ein paar kleine Daunen verfangen. Ich ziehe mich schnell an und schnappe mir meine kalten, steifen Stiefel. Es ist, als würde man in Skischuhe steigen. Meine Augen tränen von der kalten Luft. Meine ausgetrocknete Haut ist faltig, rau und schuppig. Zum Frühstück bestelle ich mal wieder Bratkartoffeln – die Kartoffeln stammen von den Feldern ringsum. Sie schmecken köstlich und geben mir Energie. Micha genießt wieder einen Haferbrei und Bhim wartet bereits auf unseren Startschuss: Gehn` ma langsam!

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9 Gedanken zu “Nepal: In Motorradstiefeln um den Manaslu (1/2)

  1. Hallo ihr zwei,

    endlich hatte ich wieder Zeit in eure Reise einzutauchen und wieder bin ich begeistert was ihr alles erlebt. Habt noch eine schöne Zeit und kommt gesund in Berlin an.

    LG Patricia

  2. Hallo ihr zwei,
    so langsam geht es also wieder gen Heimat.
    Manchmal fragen wir uns, wie man all die tollen Eindrücke eurer
    Reise verarbeiten kann. Für euch werden sie bestimmt unvergesslich
    bleiben.
    Wie umarmen euch. Tantchen und Heiko

  3. Hallo Suse und Micha!

    Endlich habe ich genug Muße, Euren Bericht weiterzulesen. Über Kambodscha und die Roten Khmer wusste ich nur wenig. Jetzt werde ich mal versuchen, diese Wissenslücke ein wenig zu schließen. Ein Anfang ist Dank Euch gemacht :). Trotz des kargen und beschwerlichen Lebens sehen die Menschen auf Euren Bildern meist glücklich und zufrieden aus. Ist mal wieder ein Hinweis darauf, wie wenig man eigentlich braucht, um diesen Zustand zu erreichen.
    Überrascht bin ich allerdings über 2 Dinge. 3 Wochen in Motorradstiefeln zu wandern ist für Stiefel und Füße mit Sicherheit eine echte Herausforderung. Aber zusätzlich noch Wanderschuhe mitzunehmen war wohl keine echte Option…
    Und dann das tägliche Socken waschen. Also bei der Fahne (Armee) hieß es immer: Hebt Euch ein paar gut gebrauchte Socken für die langen Fußmärsche auf. Darin lauft Ihr Euch nicht so schnell Blasen, wie in frisch gewaschenen… 😉

    Liebe Grüße aus dem hohen Norden und bleibt gesund und munter!
    Klaus 🙂

  4. Huch, ich sitze ja doch in Berlin! Eben war ich wieder so eingesaugt in Deine schönen Beschreibungen, Suse, dass ich fast dabei war…in den kleinen Dörfern, auf den Pfaden, zwischen den Schafen auf der Hängebrücke…;-) Nun muss ich ausharren, bis Teil 2 kommt und ich wieder dabei sein kann. Ich warte schon sehnsüchtig und bin sehr gespannt!
    Ich hoffe, Eure Stiefel halten durch! Clemens ist mal bei einer Wanderung die Sohle abgefallen, zum Glück hatten wir Gummibänder dabei. 😉
    Viele liebe Grüße
    Susanne

  5. Schön eure Reiseeindrücke zu lesen, wir sind Euch zweimal auf der Manaslu Runde begegnet, zuletzt in der Lodge in Samdo. Weiterhin eine gute Reise
    Jürgen von der 6er Trekking Gruppe

  6. Hallo Suse und Micha, Beim Lesen eurer Geschichte fühlen wir uns wieder zurückversetzt auf unsere Tour zum Gokyo Ri in 2013. Suse, du kannst immer so schön anschaulich beschreiben, was ihr gesehen habt! Einfach toll.
    Wir sind gespannt auf die Fortsetzung. Vor allem, wie ihr oben das tägliche Waschen eurer Socken gemeistert habt 😉
    Liebe Grüße und viel Spaß noch
    Ute & Eddy

  7. Jippieh! Ein neuer Bericht.
    Irgendwie werde ich immer wieder neidisch, aber ebenso kann ich euch die Endorphine einfach nur gönnen.
    🙂
    Solidarische Grüße aus’m wilden Westen!
    Martin

  8. Hallo ihr Zwei!!
    Ach bin ich neidisch!! Aber mit 81 Jahren klappt es bestimmt nicht Euch eizuholen.
    Alles wieder beeindruckend. Das Foto mit den Schafen auf der Hängebrücke bekommt bei mir den ersten Platz!

    Bleibt gesund. Die Rückfahrt von Moskau aus ist langweilig.

  9. Hallo Micha und Suse

    Ich habe gerade eben das erste Teil gelesen, wir freuen uns schon auf die Fortsetzung!!! 😉
    Sehr schöne Fotos, die mir irgendwie sehr bekannt vorkommen. Teilweise habe ich an der selben Stelle fotografiert.
    Liebe Grüße aus Kempten

    Marc und Ursula (die vom Nachbar Zimmer ;-))