Nordpakistan – eMMenreiter Reiseabenteuer auf alten MZ-Motorrädern Mon, 18 Oct 2021 14:04:20 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.0.2 /wp-content/uploads/2015/03/reise-551a6390v1_site_icon-32x32.png Nordpakistan – eMMenreiter 32 32 Nordpakistan: Von Nagar bis Wagah /nordpakistan-nagar-wagah-2016/ /nordpakistan-nagar-wagah-2016/#comments Mon, 21 Nov 2016 13:34:21 +0000 /?page_id=10105 Spaziergang durch Chalt (Nagar)

Im Nagar-Dorf Chalt: Spaziergang mit Nilo © emmenreiter.de

Rakaposhi: Eine Nacht vor der glänzenden Wand

Wir sind bereit. Motiviert, morgens, in Minapin – Ausgangspunkt unserer Tageswanderung zum Basislager des Rakaposhis. Von dort können wir ungehindert auf die weiße, gewaltige Nordostwand dieses breiten Berges gucken. „Glänzende Wand“ haben ihn die Menschen in Hunza und Nagar in ihrer Sprache Burushaski getauft.
Obwohl es noch früh am Morgen ist, wird uns ziemlich schnell warm, als wir in Wanderschuhen bzw. Motorradstiefeln die ersten Schritte durch das Nagar-Dorf Minapin machen. Da ist Anne, die Athletin, die stundenlang über Gott und die Welt reden kann. Und Yui aus Japan, die seit fast fünf Jahren mit dem Rucksack umherzieht und heute Geburtstag hat. Mit Natalia aus Kolumbien, eine temperamentvolle Frau, die gerne früh aufsteht, teile ich den selben Humor. Der wichtigste in unserer kleinen Gruppe ist allerdings Micha – derjenige mit dem größten Rucksack, in dem er ohne Murren die Campingausrüstung für uns alle schleppt. Seppo, der junge Typ von der Rezeption aus unserem Hotel in Karimabad, wird uns wegweisend begleiten – in Jeans, Turnschuhen, schwarzer Lederjacke und mit einer Plastiktüte in der Hand. Er ist sehr zurückhaltend und schüchtern. Aber wir werden ihn noch aus der Reserve locken.
Gleich hinter dem Dorf beginnt der grob geschotterte Track, auf dem zwei Leute bequem nebeneinander laufen können. Von jetzt an geht es stundenlang ziemlich straff nach oben. In meinem Tagesrucksack quetschen sich sechs große Flaschen Wasser, die wie Steine an meinem Rücken hängen. Ein winziges Kalb, das erst seit kurzem auf der Welt ist, folgt uns auf seinen hohen, dünnen Beinchen. Es möchte in seinem angeborenen Herdentrieb unbedingt bei uns mitlaufen und lässt sich nicht abschütteln. Seppo muss es ins Dorf zurücktragen und schnell von ihm davonlaufen.
Der Wanderweg windet sich in Serpentinen nach oben und wir können bald tief atmend auf Minapin hinunterschauen. Zweimal kürzt Seppo den steilen Weg durch einen noch steileren ab. Dann müssen wir am Hang zwischen Sand und Steinen mit weichen Knien entlang krabbeln. Sobald Büsche oder Felsen etwas Schatten spenden, halten wir kurz an und verschnaufen. Die T-Shirts sind staubig und verschwitzt. „Wie lange noch, Seppo?“ frage ich nach etwa drei Stunden. „In zehn Minuten könnt ihr Tee trinken an einer Hütte,“ verspricht er uns lächelnd. Eine Teehütte? In dieser Gegend? In meiner Fantasie blitzt sofort ein schattiges Plätzchen zum Verweilen auf – mit kleinen Snacks und kühlen Getränken. Allerdings ziehen sich Seppos zehn Minuten in die Länge. Unsere Truppe läuft, schwitzt und läuft. Jeder fragt sich, ob Seppo einen Witz gemacht hat. Irgendwann erblicken wir dann endlich die alte Schäferhütte aus Feldsteinen mit einem provisorischen Dach aus roter Plane. Zwei junge Männer haben hier tatsächlich eine kleine Kochstelle eingerichtet und bringen uns ein Tablett mit süßem Tschai nach draußen. Ich lasse mich auf den Rasen plumpsen und lausche der kleinen Quelle, aus der frisches Bergwasser sprudelt. Mein Bauch tut weh und meine Beine sind schwer. Micha und Anne füllen unsere Wasserflaschen auf – es ist die letzte Gelegenheit dafür.
Von der Hütte sind es noch zwei, drei Stunden bis zum Basislager. Wer weiß das schon genau. Seppo nimmt mir zum Glück meinen Rucksack ab. „Was ist da drin?!“ wundert er sich über das Gewicht. Ich bin echt erleichtert, denn ab jetzt ist der Weg schmal und noch steiler. Unsere Karawane, die sichtlich ermüdet noch zwei Stunden daher stapft, erwacht plötzlich, als wir oben an einem langen Bergkamm auf die andere Seite hinab schauen. Vor uns breitet sich ein gewaltiger, eisgespickter Gletscher aus. Der Anblick nimmt einem die Luft weg.
Die Sonne steht schon tief und kühler Wind hat unsere T-Shirts trocken geblasen. Alle frieren und ziehen schnell ihre Jacken und Mützen über. Auf dem letzten Stück bis zur Ankunft am Basislager ist der Trampelpfad entlang am Berg so schmal, dass mir unweigerlich der Gedanke kommt, wie nah wir der Gefahr sind, für immer am Rakaposhi zu verschwinden. Das ist nämlich das wahre Risiko Pakistans: ein kurzer Fehltritt und das war`s. Allerdings wirkt keiner aus der Truppe, die Seppo im Gänsemarsch folgt, zögerlich. Bin ich echt die einzige, die gerade die Trekkinghosen voll hat? Ohne etwas zu sagen gehe ich vorsichtig und demütig hinterher. Ich glaube, alle von uns möchten ihren Rucksack einfach nur noch auf die abgegraste Weidefläche des 3.200 Meter hoch gelegenen Basislagers fallen lassen, etwas warmes essen und in den Schlafsack krabbeln. Nach sieben Stunden bauen wir endlich unsere Zelte auf.
Als alle im Schlafsack liegen, scheint der runde Mond wie eine Laterne auf unser Camp und auf die „Glänzende Wand“. Draußen rascheln Kühe auf der Suche nach Essensresten um die Zelte herum. Micha bekommt nichts davon mit. Meine Nacht ist dagegen sehr bescheiden. Mein Bauch ist immer noch verkrampft und ich will einfach nicht müde werden, trotz der anstrengenden Wanderung. Das muss an der Höhe liegen. „Guten Morgen, seid ihr wach?“ höre ich Anne früh um fünf von draußen durch unsere Zeltwand flüstern. Wir hatten am Abend verabredet, alle gemeinsam den Sonnenaufgang zu beobachten. In sämtliche verfügbare Klamotten eingemummelt geht’s nun im Dunkeln auf den kleinen Bergkamm hinauf, der das Basislager vom Gletscher trennt. Nach einer Weile beginnt das Naturschauspiel: Die versteckte Morgensonne, die wir hinter den Bergen nur erahnen können, lässt plötzlich die Spitze des schneebedeckten Rakaposhis in kräftigem Gelb aufleuchten. In wenigen Augenblicken schiebt sich das warme Licht wie eine Decke über den Bergriesen. Ich reibe meine eiskalten Hände und hauche meinen Atem in die klare Luft. Bald schaffen es die Strahlen der Sonne über die Berge und wärmen unsere immer noch verschlafenen Gesichter. Wir erleben hautnah, wie der weite Gletscher nach und nach aus dem Schatten auftaucht. Sein Eis knackt und das Geräusch breitet sich in der Bergwelt aus. Oben am Gipfel des Rakaposhis bricht im Sonnenlicht eine gewaltige Lawine herunter und wirbelt den Schnee wie feines Puder auf. Guten Morgen in Nordpakistan!

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Wiedersehen in Chalt

Hunza und Nagar – bis 1974 wurden diese beiden abgelegenen Bergreiche durch Könige regiert. Als der neu geschaffene Karakorum-Highway der pakistanischen Regierung in Islamabad mehr Einfluss nach Norden verschaffte, hatte man beide Königsfamilien entmachtet.
Heute wollen wir unseren Freund Saeed Khan im Nagar-Dorf Chalt wiedersehen. Saeeds Großvater war der letzte regierende König von Nager und der Großvater seiner Frau der letzte König von Hunza. Wir lernten Saeeds Familie vor acht Jahren kennen, als uns ihr Sohn Adam bei einem Spaziergang durch Chalt ansprach und auf einen Tee ins Sommerhaus mitnahm.
Saeed zieht es immer noch jedes Jahr von Mai bis Oktober aus dem lauten Rawalpindi hierher in die Stille der Berge. Er hatte uns bei unserer ersten Begegnung sofort mit offenen Armen empfangen, so als würden wir uns ewig kennen. Saeed ist charismatisch, lacht viel und steckt voller spannender Gedanken. Es macht einfach Spaß, in seiner Nähe zu sein. Nun sitzen wir seit ein paar Minuten wie damals in den Korbsesseln auf der Terrasse seines Sommerhauses, die mit roten Rosenbüschen eingerahmt ist, und blicken auf den wilden Garten und den Rakaposhi. Saeed ist noch nicht da. Er ist heute auf einer Hochzeit in Gilgit und sei bereits auf dem Heimweg. Seine Frau, mit der wir leider keine Sprache teilen, lächelt uns liebevoll an und lässt Tee und Kekse servieren, während wir gemeinsam auf ihn warten. Nicht lange, dann kommt ein Wagen zügig auf den grünen Hof gefahren. Saeed steigt aus, spurtet hoch auf die Terrasse und schließt uns zur Begrüßung fest in seine Arme. Unser Wiedersehen fühlt sich sehr gut an – ein Gefühl von Freundschaft, obwohl wir damals nur wenige Tage miteinander erlebt haben.
Am Abend sitzen wir zusammen im gemütlichen Licht der Stehlampe auf den Sofas im Wohnzimmer. Sher Khan, ein stiller Hirtensohn aus Nagar und mittlerweile ein bekannter Musiker, ist bei uns. Er hat sich einen alten Metallbenzinkanister zwischen die Beine geklemmt und seine Händen beginnen, sanft darauf zu trommeln. Dann setzt seine eingehende Stimme ein und er singt Lieder, die er der einmaligen Natur seiner Heimat widmet. Es ist, als sänge er über die Liebe. Saeed hat sich mit einer Zigarette in der Hand lässig ins Sofa zurück gelehnt, schließt seine Augen und summt mit. 
Am nächsten Nachmittag nimmt uns Saeed zu einem Volleyballturnier ins Nachbardorf mit, wo er als Ehrengast geladen ist. Er hat das Turnier kurzerhand vorverlegen lassen, damit wir ihn begleiten können. Die ehemalige Königsfamilie genießt immer noch hohen Respekt und die Leute mögen Saeed. Je älter er wird, desto stärker engagiert er sich für die Menschen in Nagar. Er hilft ihnen vor allem, ihre einzigartige Kultur zu bewahren – traditionelle Werte, Feste und Musik.
Als wir mit seinem Wagen am Turnierplatz anhalten, sind beide Mannschaften längst im Gange. Wir steigen aus und das Spiel wird unterbrochen, um den Ehrengast und seinen Besuch aus Deutschland zu begrüßen. Die Spieler haben sich zügig aufgereiht und nun laufen Saeed, Micha und ich händeschüttelnd an ihnen entlang. Ich bin etwas überrumpelt von der Aufmerksamkeit, die wir hervorrufen. Man platziert uns auf einer kleinen Tribüne am Spielrand. Bei der Siegerehrung wird Micha gebeten, den Pokal zu überreichen und ich als „Madam“ darf den Gewinnern die Medaillen umlegen. Saeed lacht uns an.
Zurück am Haus in Chalt warten bereits Nilo und ihre Schwester auf uns – Mädchen aus der Nachbarschaft – die uns, seit wir hier sind, immer wieder kichernd beäugen. Nilo entführt Micha und mich auf einen Spaziergang und zeigt stolz ihr kleines, bescheidenes Zuhause. Sie ist 17 Jahre alt und strotzt vor Lebensenergie. Immer wieder versteckt sie ihr Lachen und das neugierige Gesicht hinter dem langen, knallorangen Tuch, das sie keinen einzigen Moment von ihren Haaren abstreift. Am späten Abend kommt der alte Benzinkanister nochmals zum Einsatz. Nilo und ihre Schwester fangen an, zu singen und zu tanzen – das Tanzen haben sie aus indischen Filmen abgeschaut. Vorher sollen wir aber die Vorhänge vor die Fenster ziehen.
Nach drei sonnigen Tagen in Chalt verabschieden wir uns wieder. Saeed hätte uns gerne noch viel mehr gezeigt. Und wir hätten gerne noch viel mehr gesehen. Aber die Reise geht weiter. Er ruft seinen Sohn Adam in Rawalpindi an – er solle sich gut um uns kümmern, wenn wir dort ankommen.
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Roxette in Rawalpindi

Nach einem Zwischenstopp in Gilgit fahren wir über den Barbusa-Pass ins Kaghan-Tal bis nach Naran. Die Straße über den Viertausenderpass, den wir uns 2008 mit den Emmen hinauf kämpfen mussten, ist mittlerweile asphaltiert. Unser Plan, hinter Naran über die ruhige Bergstraße bis nach Murree, Islamabad und Rawalpindi zu fahren, geht leider nicht auf. Denn diese Route würde ein kurzes Stück durch Kaschmir führen. Da es momentan wieder kräftig im Krisenherd brodelt, schickt man uns an der Schranke aus Sicherheitsgründen zurück.
Es geht also wieder auf den Karakorum-Highway, der uns bald durch die Hölle jagt. Ab den Städten Mansera und Abbottabad, als die Berge gerade hinter uns liegen, geraten wir in den Verkehrswahnsinn. Jeder versucht, sich wild hupend an den dreckigen Lastwagen vorbei zu drängeln, die reihenweise die Fahrspur verstopfen. Am schlimmsten sind die mit Passagieren bis zur Decke vollgepackten Kleinbusse – die haben es besonders eilig und irritieren mich mit waghalsigen Überholmanövern. Nieeeemals würde ich mich in solche Busse setzen, auch wenn ich auf dem Motorrad immer wieder ausweichend nachgeben muss, wenn es diese Vollidioten darauf anlegen.
Meine Klamotten kleben an mir und ich zähle Kilometer für Kilometer. Genau wie Micha. Seit acht Stunden hocken wir auf unseren Emmen und hoffen, dass wir Rawalpindi noch im Hellen erreichen. Der Himmel ist längst nicht mehr blau, sondern getrübt von Staub und Abgasen. Noch 70 Kilometer, sagt das Verkehrsschild. Micha und ich sind froh über jede Drehung in unserem Kilometerzähler.
Die Sonne geht bereits unter und wir schalten die Scheinwerfer an. Der Gegenverkehr fasst es als Provokation auf. Als wir erleichtert aufatmen in dem Glauben, eine Ewigkeit später am Stadtrand von Rawalpindi zu sein, taucht ein neuer Wegweiser auf: nochmals 45 Kilometer. Das ist, als würde man den Marathon-Zieleinlauf kurz vor Deiner Nase um zwei weitere Laufstunden nach hinten verlegen. „Kannste vergessen – ich fahr keinen Meter mehr!“ platzt die Erschöpfung aus mir heraus. Micha ist genauso deprimiert wie ich. Im Dunkeln fahren wir den chaotischen Highway gen Pindi entlang und stehen nach insgesamt zwölf Stunden unterwegs endlich, endlich, endlich vor Adams Haus. Wir sind sicherlich kein schöner Anblick, denke ich.
Adam freut sich und kann sich noch gut an unsere erste Begegnung vor acht Jahren erinnern. Unsere kraftlosen, durchgeschwitzen Körper fallen auf die Sessel seines klimatisierten Wohnzimmers. Er weiß uns sehr schnell aufzumuntern. „You need a cool drink!“ Dann zaubert er plötzlich kühles Bier auf den Tisch. Wo kommt das denn her? Ein Glas reicht heute aus, um sich sauwohl zu fühlen. Geist und Körper entspannen sich zügig. Wir drehen die Musik auf. Wie geil. Irgendwann läuft ein Song von Roxette und wir drei können jede Zeile mitsingen. Wo sind wir gerade? In Pakistan? Wir gehen später noch italienisch essen, treffen am nächsten Abend seine Freunde in Islamabad und fahren noch auf einen Drink bei Adams Schwester vorbei. Zwei Tage lang sind wir unserem Leben in Deutschland näher, als man sich vorstellen kann.

Kein Wagah-Wagah

Die doppelspurige Grand Trunk Road führt uns von Rawalpindi nach Lahore. Wir wollen versuchen, noch heute nach Indien auszureisen. Gern hätten wir viel mehr Zeit in Pakistan verbracht, um Chitral, die Berge um Skardu, die Täler von Nagar oder das Swat-Tal zu erkunden. In vier Wochen müssen wir allerdings bereits an der Grenze zu Myanmar sein. Ähnlich wie in China dürfen wir auf eigenen Motorrädern nur mit einer geführten Tour durch dieses Land reisen. Um Kosten zu sparen, haben wir uns einer kleinen Gruppe Motorradfahrer angeschlossen, die Ende Oktober starten will.
Kurz nach drei Uhr stehen wir am ersten Wachposten nahe der Wagah-Border. Die Sicherheitskontrollen am einzigen Grenzübergang zwischen Pakistan und Indien sind nach einem Bombenanschlag vor zwei Jahren deutlich verschärft worden. Die aktuell aufgeflammten Konflikte in Kaschmir haben die Grenzer zusätzlich in Alarmbereitschaft versetzt. Sogar die allabendliche, spektakuläre Borderclosing-Zeremonie, zu der tausende Menschen auf beiden Seiten der Grenze anreisen, wird derzeit ausgesetzt. Kein Wagah-Wagah also.
„The border is closed after three o`clock!“ enttäuscht uns die Security, als wir sie freundlichst bitten, uns zur Grenze durchzulassen. Auf dem Gelände zu übernachten sei auch nicht mehr erlaubt. Man schickt uns zurück nach Lahore. Widerwillig kehren wir um und dringen auf den Emmen ins stickige und laute Zentrum von Lahore vor. Am nächsten Morgen steige ich im Hostel lustlos in die dreckigen Motorradklamotten, die sich sofort an meine schwitzende Haut heften. Die Routing-App auf dem Handy schickt uns hinter dem Stadtrand von Lahore dann auch noch auf eine Nebenstraße, die als schmaler, staubiger Weg durch die Pampa verläuft. Wieso?! Und wo kommt auf einmal dieses ungesunde Geräusch an meiner Emme her? Zugestaubt landen wir wie durch ein Wunder tatsächlich an der Wagah-Border und ich stelle fest, dass mein Motorrad ziemlich instabil ist. Genau wie unsere Stimmung. Micha mag es wie ich kaum aussprechen, aber er vermutet, dass der Rahmen meiner MZ wieder beschädigt ist. Hier vor dem Grenzgebäude müssen wir das Problem für den Moment beiseite schieben bis wir in Amritsar angekommen sind…

> So geht`s weiter: Nordindien: Goldener Tempel, Turban und Durga Puja
< Vorherige Reisegeschichte

Die ganze Reise im Überblick – mit Route, allen Reisegeschichten und Bildern:
Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad

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Nordpakistan: Happy in Hunza /nordpakistan-hunza-2016/ /nordpakistan-hunza-2016/#comments Wed, 19 Oct 2016 15:59:57 +0000 /?page_id=9856 Nordpakistan: Berge bei Passu

Morgens in Passu © emmenreiter.de

Touristen entführt

Nachrichten wie diese kleben an Pakistan. Leider. Dabei ist eine abenteuerliche Schotterpiste am Abgrund der Berge des Shimshal-Tals das Einzige, das uns entführt hat. Und zwar in stille Dörfer, die noch bis 2003 vom Rest des Landes nahezu abgeschottet waren. Der Weg nach Shimshal ist gerade mal so breit wie der alte Jeep, der uns dorthin mitgenommen hat. Auf der dreistündigen Fahrt habe ich mehrmals zu Micha gesagt, wie froh ich bin, dass ich gerade nicht auf der Emme sitze.

„We had no idea!“

7. September 2016. Wir stehen neben dem pakistanischen Grenzstein auf dem Khunjerab-Pass und ich krame das kleine GPS-Gerät aus dem Tankrucksack: 4.719 Meter über dem Meer. Unsere betagten MZ-Motorräder haben`s immer noch drauf. Dafür verkrampft sich gerade mein Bauch, wahrscheinlich von der dünnen Höhenluft. Micha strahlt übers ganze Gesicht und ist umringt von einer genauso gut gelaunten Truppe hipper Jungs aus Lahore, die zum ersten Mal am Pass sind. Ein facebook-Selfie jagt das nächste. Seit die Chinesen vor fünf Jahren den Karakorumhighway auf pakistanischer Seite erneuert haben, kommen immer mehr einheimische Touristen in die nördlichen Berge „We had no idea, how peaceful and beautiful this part of our country is!“ sagen sie dann. Genau wie die Ausländer, die Teile Pakistans trotz schlechter Nachrichten aus den Krisenregionen bereisen.
„Ich brauch Sauerstoff. Lass uns nach unten fahren“, bitte ich Micha. Bei unserer Reise im Jahr 2008 mussten wir die Emmen über groben Untergrund talwärts manövrieren. Heute rollen wir auf der linken Fahrspur einer glatten Straße Kurve für Kurve am kristallgrauen Indus entlang nach Hunza.
Mir wird schwindelig, als ich beim Fahren kurz nach oben gucke zu den nahen, gewaltigen Spitzen der drei höchsten Gebirge der Erde, durch die sich der Karakorumhighway schlängelt. Hier komme ich mir wirklich vor wie eine Ameise. Felsbrocken und massige Gerölllawinen haben den neuen Asphalt an vielen Stellen schon wieder verschlungen oder tiefe Narben auf ihm hinterlassen. Die Leitplanken sind kilometerlang zerstört – zerquetscht wie Aluminiumpapier. Kein Straßenbautrupp der Welt kann die Natur im Norden Pakistans dauerhaft bezwingen, so scheint es.
Mit jedem Kilometer, den wir uns dem Hunzatal nähern, fühle ich mich wohler. Es ist schön, wieder hier zu sein. Im ersten Dorf Sost stempelt ein freundlicher Mann, gekleidet im Shalwar-Kamiz, unsere Visa und ein anderer die Zollpapiere für die Motorräder ab. Ein Visum für Pakistan zu bekommen sei in letzter Zeit viel schwieriger geworden, hören wir immer wieder. Auch wir sollten der pakistanischen Botschaft in Berlin schon Monate vorher eigentlich eine vollständige Route mit gebuchten Unterkünften vorlegen. Das macht bei einer Reise auf dem Landweg überhaupt keinen Sinn. Der Botschafter hat das glücklicherweise akzeptiert.

Aufwachen in Passu

Lecker. Goldbrauner Milchtee versüßt uns den ersten Abend in Pakistan. Wir sitzen im kleinen Glacier Breeze Restaurant in Passu und erinnern uns an unsere allererste Reise nach Hunza. Der Tee, die Gerüche, das schummerige Licht der Gaslampe, wenn der Strom mal wieder ausgefallen ist – alles noch genau so. Als wir auf der kleinen Rasenfläche hinter dem Restaurant in unser Zelt krabbeln, blinzeln die weißen Sterne vom schwarzen Himmel. Wir freuen uns schon jetzt auf den kommenden Morgen.
„Guck Dir das an, Suse!“ Micha steht draußen vor dem Zelt und freut sich über die Berge und den knallblauen Himmel. Nach einem Omelette mit Chapati zum Frühstück laufen wir gemütlich los zum Passu-Gletscher, den man von hier aus schon sehen kann. Das ist wirklich ein Katzensprung. Der teils feinsandige Trampelpfad hat zunächst fast keine Steigung. Bunte Vögel fliegen aufgeregt an uns vorbei. Um dem Gletscher richtig nahe zu kommen, müssen wir über eine Steinmoräne kraxeln. Nicht weit. Bald sitzen wir direkt vor der Riesenmasse an Eis, die sich fast bis ins Dorf schiebt. Der Passu-Gletscher soll einer der schönsten Gletscher der Welt sein. Auf jeden Fall war das einer der schönsten Vormittage unserer Reise.
Wir bauen in Ruhe unser Zelt ab und es geht zurück auf die Straße durchs Hunzatal. Die Landschaft zwischen Gulmit und Karimabad hat sich durch den gewaltigen Erdrutsch im Jahre 2010 verändert. Die Naturkatastrophe hat Straßen und Dörfer zerstört, aber auch einen wunderschönen See hervorgebracht, der in Türkis strahlt. 20 Kilometer des Karakorumhighways, die wir vor acht Jahren noch befahren haben, sind sozusagen unter dem Attabad-See begraben. Seit kurzem führt ein neuer Straßenabschnitt mit fünf engen, düsteren Tunneln um den See herum. Wir müssen also keine abenteuerliche Bootsfahrt mit den Emmen machen, was längere Zeit lang die einzige Möglichkeit war, um an dieser Stelle weiter zu kommen.
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Basislager Karimabad

Auf den ersten Blick hat sich nichts verändert in Karimabad – der alte Königspalast thront oberhalb des Hunza-Dorfes, dessen kleine Häuser und Gärten sich an den grünen Berghängen verteilen. Von überall blickt man auf die riesigen Felswände des Karakorums, die Karimabad umgeben, und auf das traumhafte Flusstal. An der schmalen, staubigen Hauptstraße reiht sich ein kleiner Laden an den anderen. Im Juli und August sei der Ort voller pakistanischer Touristen, ansonsten sei nicht viel los, sagen die Shopbesitzer. Ausländische Touristen sähen sie leider nur noch selten.
Wir folgen dem Schild „Old Hunza Inn“ – das kleine, einfache Hotel gibt es also auch noch. Es kommt allerdings etwas vernachlässigt und vereinsamt daher. Kein anderer Gast hier, außer uns. Das Zimmer, das wir beziehen, ist sehr spartanisch, dafür ruhig und günstig. Und wir haben einen schönen Blick auf den Garten und den schneeweißen, 7.788 Meter hohen Rakaposhi. Ein gutes Basislager also für die nächsten Tage.
Im Gasthaus ist niemand da, der uns Gesellschaft leistet. Aber in Karimabad bleibt man nicht lange allein. Ein einziger Spaziergang durchs Dorf genügt, um Freundschaften zu schließen – die Hunzukuz verwickeln Fremde eben gerne in ein nettes Gespräch. So auch Nazim, ein junger Mann in T-Shirt und Jeans, der uns über den Weg läuft, als wir gerade ein paar Stunden hier sind. Er sei gerade zu Besuch in seiner Heimat und lebe ansonsten in den USA. „Let us meet for dinner tonight!“ lädt er uns spontan ein. Bis es soweit ist, nehmen wir noch eine Dusche unter Gletschermilch, denn das Leitungswasser in Karimabad ist wie eh und je vom metallgrauen Steinstaub der Berge getrübt. Die Mineralien sind übrigens auch der Grund, warum die Bergseen im Sonnenlicht so herrlich türkis leuchten.
Als es dunkel ist, holt uns Nazim am Hotel ab. Die kleine Küche des Old Hunza Inns ist verlassen. Der Gemeinschaftsraum mit seinem großen, langen Tisch, an dem früher jeden Abend mehrere Gäste zum gemeinsamen Dinner zusammengekommen sind – bleibt leer. Nazim nimmt uns mit ins Rainbow-Restaurant. Bei Linsensuppe, Reis und Hühnchen fragen wir ihn nach den Wahlkampfplakaten, die überall aushängen. Die nördliche Region Gilgit-Baltistan wählt übermorgen ihre eigene Regierung. Der teilautonome Norden hat nämlich einen Sonderstatus in Pakistan, der mit dem Kaschmirkonflikt zusammenhängt.
Was viele hier im Moment Sorgen macht, ist der „Economic Corridor“ – ein gigantisches Infrastrukturprojekt zwischen China und Pakistans Regierung, das die Wirtschaft mit neuen Highways und der Erschließung neuer Energiequellen ankurbeln soll. Viele fragen sich, was das für das Leben und die Natur in den nördlichen Bergen bedeutet. Wer wird am Ende davon profitieren? Gilgit-Baltistan hat in dieser Sache kein Mitspracherecht, obwohl die Region stark betroffen ist. In unseren Ohren klingt das leider nach keiner guten Situation.

„Eid Mubarak!“

Wir haben den 19. September und heute feiern die Muslime das Opferfest. In Karimabad fällt dieses Fest etwas einfacher aus. Die Mehrheit der Hunzukuz sind Ismaeliten – eine liberale muslimische Gemeinschaft, die sich deutlich von den meisten anderen Korananhängern unterscheidet. Ihr geistiges Oberhaupt, ein Schweizer, ist der in Frankreich lebende Aga Khan – „Allahs sanfter Revolutionär, der seine weltweit 20 Millionen Anhänger wie ein Papst, Wohltäter und Konzernherr in die Neuzeit führt“, stand es mal im Spiegel-Magazin.
Nazim hat uns zu sich nachhause eingeladen. Wir ziehen unsere pakistanischen Kleider an und machen uns morgens auf den Weg zu seinem Elternhaus. „Eid Mubarak!“ wünscht man sich – ein „gesegntes Fest“. Draußen im Garten grasen ein weißes, junges Marco-Polo-Schaf und ein Kalb. Wer weiß, wie lange noch.
Wir haben ein paar Süßigkeiten mitgebracht und nehmen im Haus auf dem Teppich platz – Männer und Frauen sitzen in getrennten Zimmern. Ich darf bei den Männern bleiben. Nach und nach kommen Nachbarn und Verwandte dazu, gekleidet in Hunzatracht. Nazims Familie serviert Gebäck, Butter und Tee. Ein älterer Herr aus dem Dorf hat sich zu der Männerrunde gesellt und spricht nun ein Gebet. Solange halten alle ihre nach oben geöffneten Hände in den Schoß. Als alle Teetassen leer getrunken sind, bittet uns Nazim nach draußen. Hier schärft gerade einer der Männer zwei lange Messer. Nazims Mutter legt nacheinander ein weißes Tuch und eine bunte Girlande auf das Schaf und das Kalb, die beide unschuldig am Gras kauen, das aus ihren Mäulern heraushängt. Bald darauf kommt der Mann mit dem Messer zum Einsatz. „Das Fleisch,“ sagt Nazim, „verteilen wir später im Dorf.“

Im Willys nach Shimshal

„We can go now!“ ruft uns Nazim eines Nachmittags an. Wir steigen zusammen mit zwei seiner Freunde und dem Fahrer in einen alten Willys-Jeep mit offenem Dach. Es geht in die höchste Siedlung von Hunza – nach Shimshal. Sie ist so abgelegen, dass der König einst Leute zur Strafe dorthin verbannen ließ. Drei Tage lang dauerte der beschwerliche Fußmarsch von Passu aus.
Ich lege mir das Tuch über meine flatternden Haare, lehne mich zurück und genieße es, mich über die waghalsige Piste chauffieren zu lassen. Die nächsten Stunden kann ich gefahrlos durch die Gegend gucken – hoch zu den rauen Felswänden und runter auf den reißenden Shimshal-Strom, der uns durch das enge ursprüngliche Gebirgstal führt. Als wir die ersten Häuser erreichen, ist es bereits dunkel und kalt. Der Fahrer hält an einem kleinen Hotel an. Außer einer Truppe junger Männer, die derzeit auf den umliegenden Gipfeln eine meteorologische Station aufbauen, ist niemand zu Gast. An der Wand hängen Fotos von Bergsteigern aus Shimshal und ein großes, gesticktes Plakat „K2 – gift from heaven“. Das Dorf ist berühmt für seine zähen Bergsteiger.
Wir schlagen im Garten unser kleines Zelt auf. Am nächsten Morgen wollen wir durch Shimshal wandern. Nazim und seine Freunde arbeiten an einer Dokumentation über Hunza und gehen solange auf die Suche nach lokalen Musikern. „Do you want to meet Samina?“ fragt uns der ältere Mann im Hotel, der sich um die Gäste kümmert. „Of course!“

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Samina – Zuhause bei einer Bergsteigerin

Wir ziehen die Schuhe aus und treten in das dunkle, gemütliche Haus ein. Durch das kleine Dachfenster fallen grelle Sonnenstrahlen in die Mitte des Raumes. Wir gehen in den Schneidersitz – genauso wie Samina Baig. Ein blaues Tuch bedeckt ihre dunklen Haare. Sie wirkt zerbrechlich. Dabei steckt eine Menge Energie in der kleinen Frau. Denn die braucht man wohl, um Pakistans erfolgreichste Bergsteigerin zu sein. Vor drei Jahren, da war sie gerade mal  21 Jahre alt, hat sie ihre Landesflagge in den höchsten Gipfel der Erde gesteckt – als allererste Pakistanerin. Ihr Bruder hat ihr das Bergsteigen beigebracht. Mit ihm zusammen steigt sie über die Wolken. Sie hat nicht nur den Mount Everest, sondern auch den jeweils höchsten Berg auf allen sieben Kontinenten erklettert. „Ich möchte ein Zeichen setzen – für die Gleichberechtigung der Geschlechter,“ erzählt sie uns selbstbewusst. Zur Zeit lebt sie in Islamabad und setzt sich für viele Projekte ein. Sie möchte vor allem ihrer Heimat etwas Gutes tun und junge Frauen und Männer für den Sport begeistern. Hier in ihrem alten Zuhause in Shimshal, wo es weder Strom- noch Telefonleitungen gibt, wird die junge Berühmtheit wieder ein bisschen zu dem Mädchen, das aus einem stillen Dorf in den Bergen kommt. „Mein nächstes Ziel ist der K2,“ sagt sie voller Respekt vor dem zweithöchsten Berg der Erde und dem schwierigsten aller Achttausender. Ich küsse Samina zum Abschied den Handrücken – eine regionale Geste unter Frauen, die sich mögen und respektieren. Lächelnd entlässt sie uns auf unseren Spaziergang durch Shimshal.
Seitdem es einen Jeeptrack hierher gibt, soll das Leben etwas leichter geworden sein im Tal. Heute gibt es zum Beispiel für alle Kinder eine Schule im Ort und außerdem eine kleine Krankenstation – beides private Projekte deutscher Bergfans, die nach einer Trekkingreise beschlossen hatten, dem Dorf zu helfen. Die Shimshalis leben ansonsten ihr altes Leben. Im Frühjahr bestellen sie ihre Felder, die durch lange aufgestapelte Feldsteinmauern getrennt sind. Zum Sommer hin treiben sie das Vieh auf die Hochweiden und im langen, harten Winter ziehen sie sich an die Feuerstellen in ihren traditionellen, flachen Häusern zurück. Jetzt, Anfang Oktober, ernten die Bauern das Getreide. Sie reißen die Pflanzen mit den Händen aus dem Boden und stellen sie in kleinen Bündeln auf das Feld.

Abschied aus Hunza

Als wir zurück nach Karimabad kommen, treffen wir endlich auf andere Reisende im Hotel – und zwar gleich auf vier tolle Mädels, die unabhängig voneinander an diesem Ort gelandet sind – aus Deutschland, Japan und Kolumbien. Jede von ihnen ist viel herumgekommen in der Welt. Anne (schöner Blog, in Englisch) ist mit ihrem Fahrrad unterwegs. Ich finde das jedes Mal beeindruckend, wenn Frauen solche Abenteuer alleine bewältigen. Wir alle beschließen spontan, zusammen zum Rakaposhi-Basecamp zu wandern. Danach werden wir Abschied von Hunza nehmen und weiter südwärts fahren. Wir hatten eine tolle Zeit mit den Leuten in Karimabad. „Wenn Du in einen Garten kletterst, um Aprikosen oder Äpfel zu klauen, wird dir der Besitzer einen Beutel reichen, damit du möglichst viele wegtragen kannst.“, hat uns einer die Hunzukuz erklärt. Und genauso ist es.

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Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad

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Kurzweilige Tour ins nächste Dorf

Unsere Motorradtour von Karimabad nach Chalt, entlang auf dem schmalen Karakorum-Highway, der sich jetzt meistens dicht an steilen Felswänden entlang schlängelt, dauert nicht mal zwei Stunden. Die ziemlich entspannte Fahrt peppen wir durch kurze Blicke nach oben und über den äußeren Straßenrand hinaus auf. Riesige Felsbrocken hängen manchmal so lose in der Bergwand oder ragen über die Straße, dass man hofft, sie mögen noch ein paar Sekunden dort bleiben. Die Wahrscheinlichkeit eines Bergrutsches oder Steinschlags ist wohl größer, als Opfer eines terroristischen Zwischenfalls zu werden. Unser Unterbewusstsein zieht den Gasgriff an. Doch Vorsicht, am äußeren Rand geht es ohne Sicherung hunderte Meter bergab in die Hunza River Schlucht. Zum Glück sind im Norden nicht viele Fahrzeuge unterwegs, denen wir in der Kurve ausweichen müssen. Immer wieder passieren wir Abschnitte, auf denen chinesische Bautrupps gerade am Rüumen und Ausbessern der Straße sind.

Chalt: Einladung zum Kaffee in adeliger Runde

Über zwei Holzspannbrücken gelangen wir nach Chalt. Das kleine Dorf ist geografisch und geschichtlich interessant: Hier in der Nähe traf vor fünfzig Millionen Jahren der indische Subkontinent auf die asiatische Platte und formte die gewaltige Himalaja Gebirgskette. Chalt war außerdem ein Teil der Seidenstraße. Und: Der Ort ist Teil der Region Nagyr, die wie das angrenzende Hunza einen König hatte und lange Zeit in Feindschaft mit dem Hunzareich lebte. Durch Zufall lernen wir bei einem Dorfspaziergang kurz nach Ankunft die royalen Nachfahren beider Königsfamilien kennen, deren Großeltern irgendwann untereinander heirateten und seitdem für Frieden sorgten. Prinz Shaldar Adam Khan, ein 23jähriger Typ in Jeans und Sweatshirt, der sich überwiegend in der Großstadt Islamabad zuhause fühlt, spricht uns auf der Dorfstraße an und lädt uns spontan zum Kaffee ins Sommerhaus seines Vaters Saeed ein. Saeed’s Großvater war der letzte König von Nagyr, seine Frau ist die Tochter des letzten Königs von Hunza. Alte Schwarz-Weiß-Fotografien im Haus zeigen, von wem das blaue Blut stammt.
Das eigentlich wenig genutzte Sommerhaus steht auf einer Wiese mit Blick auf den Rakaposhi. Es hat eine große Terrasse und ist bescheiden eingerichtet. Drinnen sitzt eine Bande Nachbarskinder vor dem Fernseher. Zwei Angestellte, einfache Männer aus dem Dorf, servieren uns Kaffee und Kuchen nach draußen. Adams Vater, ein eher europäisch wirkender Mann, begrüßt uns mit seiner rauhen Stimme, als hätte er uns bereits erwartet. Er ist viel herumgereist, besonders in Deutschland und Österreich und freut sich sehr über unseren Besuch. Er arbeitet seit langem im Tourismusgeschäft, damals für die pakistanische Regierung, heute mit seinem eigenen Unternehmen (www.travellife.com.pk). Die Geschichten, die er uns von seinen Trekkingtouren und über deutsche Bergsteiger erzählt, sind spannend und amüsant. Wir sitzen in Pakistanikleidung vor ihm und seinem Sohn und staunen mal wieder über die schnelle vertraute Atmosphäre.
Am nächsten Tag werfen wir einen Blick in die Dorfschule und stören mit unserem Erscheinen kurz den Unterricht. Der Direktor bittet uns, zum Milchtee zu bleiben und erzählt uns stolz, welche Fortschritte seit ein paar Jahren die Ausbildung der Jungen und der Mädchen macht. Falls Freunde aus Deutschland ein, zwei Wochen zu Besuch kommen und neue Impulse geben möchten, sind sie ab dem nächsten Jahr herzlich dorthin eingeladen. Dann sind die Gästezimmer nämlich fertig. Kontakt: M. Shafi von der Foundation Public School, shafitabish@yahoo.com.
Die Schattenseiten bleiben uns allerdings auch nicht verborgen. Die Familien in Chalt sind oft arm und leben in sehr einfachen Häusern. Iqbal, ein gebildeter und engagierter Mann, erzählt uns, dass es keine leichte Aufgabe ist, die Region zu entwickeln. Nach drei Tagen, an denen wir andere Männer im Dorf dabei beobachtet haben, wie sie sich mit Nichtstun die Zeit vertreiben, haben wir den Eindruck, als wollten manche gar nicht viel ändern. [See image gallery at www.emmenreiter.de]

Gilgit: Polospiel und Buddha

Unser nächstes Ein-paar-Tage-Zuhause ist Gilgit – die südlichste Stadt der nördlichen Landesregion. Um dorthin zu kommen, müssen wir vom Karakorum-Highway abbiegen und bei Dainyor über den Hunza River fahren. Die lange, schwankende und schmale Holzbrücke über den Fluss ist ein Nadelöhr. Polizisten arrangieren daher die Überfahrt: einmal fährt die eine, dann die andere Seite. Im wirbeligen Gilgit angelangt, flüchten wir erst einmal ins Madina Guesthouse – eine Ruheoase und Treffpunkt vieler Karakorum-Reisender. Einige von ihnen kennen wir schon. Das achtköpfige Personal behandelt jeden Gast wie einen Freund und macht es uns leicht, sich wohl zu fühlen. Uns fehlt es an nichts.
Auf der Straße vor dem Gasthaus können wir uns langsam wieder an chaotisches Gewusel gewöhnen. Alles spaziert, fährt und hupt durcheinander. In der etwas dreckigen Innenstadt reihen sich hundert kleine Geschäfte aneinander, dazwischen schlachten Männer in verschmierten Pakistanikleidern Hühner und Rinder. Ein langsamer Übergang zu indischen Verhältnissen, denken wir. In dieser Stadt hören wir auch wieder deutlich die Gebetsgesänge, die fünfmal täglich aus verschiedenen Lautsprechern gleichzeitig über die Dächer hallen. Ein islamischer Kanon, der uns besonders früh morgens zum Sonnenaufgang das Gefühl vermittelt, in einer anderen Welt zu sein.
In der ersten Novemberwoche findet in Gilgit jedes Jahr ein großes Polo-Tournier statt. Darum treffen sich derzeit fast jeden Nachmittag um vier Uhr Männer mit ihren Pferden auf dem alten Polofeld zu einem Trainingsspiel. Das ist unsere Chance, das erst Mal Polo zu erleben. Zwölf Männer zu Pferd, also zwei Sechser-Teams, haben sich auf dem Platz eingefunden. Jetzt geht es zweimal eine halbe Stunde darum, den Holzball ans jeweils andere Ende übers schmale und staubige Feld zu schlagen. Mehr Regeln gibt es nicht. Wir sitzen zwischen anderen Zuschauern am Rand und merken schnell, dass es nicht nur für die Pferde und Spieler gefährlich werden kann. Ein paar Mal fliegt der harte Ball zu uns rüber. Wenn sich die Reiter darum scharen, knallen die Polostöcke durcheinander, bis ab und zu einer bricht. Die Beine der Pferde bleiben nicht immer verschont. Polo ist eine große Sache in Nordpakistan, aber auch ein hartes Los für die Tiere.
Am anderen Tag, irgendwann nach dem Frühstück im Garten, steigen wir nahe des Basars mit einundzwanzig anderen Fahrgästen auf einen abgeruckelten Toyota Helux auf, der uns hoch in Richtung Baseen bringt. Unglaublich, in welchen Klappercheesen wir manchmal herumgefahren werden. Und noch unglaublicher ist, über welche Pisten sie der Fahrer treibt. Vom Dorf Baseen aus wandern wir noch ein paar Minuten bergauf, bis wir die etwa 1300 Jahre alte Kargah Buddha-Statue im Felsen bewundern können – ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen die Menschen hier noch Hindus und Buddhisten waren, bevor sie zum Islam konvertierten. Danach geht’s gemütlich zu Fuß wieder runter nach Gilgit.

Nanga Parbat (8126m): Am Fuße des German Killermountain

Der Berg ruft. Und zwar ein legendärer Achttausender: der Nanga Parbat. Der Name bedeutet in der Landessprache Urdu „Nackter Berg“. Er hat besonders an der Südseite so steile Wände, dass der Schnee dort kaum hängen bleibt – darum nackt.
Ein öffentlicher Minibus fährt uns morgens am 20. Oktober von Gilgit zur Raikot-Brücke weiter südlich am Karakorum-Highway. Dort treffen wir Alam, der mit seiner Familie in Tato lebt – eine kleine Siedlung auf etwa 2300 Metern am Fuße des Nanga Parbats. Er hat seit zwei Jahren einen kleinen Campingplatz weiter oben auf Fairy Meadow (Märchenwiese). Unglaublich, dass Alam ein Jahr jünger ist als ich. Vielleicht ist es seine tiefe Stimme oder der wuschelig-schwarze Schnauzer, der ihn mindestens vierzig Jahre alt aussehen lässt. Egal, er ist jedenfalls ein unheimlich guter Gastgeber, der sich die nächsten drei Tage mit viel Feingefühl um uns kümmert. Von der Raikot-Brücke aus geht es in einem alten Jeep fünfzehn Kilometer zusammen mit anderen Einheimischen hoch auf 2666 Meter, und zwar auf einem der spektakulärsten Jeeptracks der Welt. Zum Glück haben wir die MZ in Gilgit gelassen, denn der Weg ist gerade mal so breit wie der Wagen selbst. Schottiger Untergrund, enge Kurven und krasse Felswände machen die Auffahrt wirklich abenteuerlich. Manchmal ist der Abgrund am Rand so tief, dass sich das Ende nicht einsehen lässt. Am Ende des Jeeptracks steigen wir etwas blass geworden aus und wandern zusammen mit Alam zwei Stunden zum Fairy Meadow Camp. Der Campingplatz liegt auf 3333 Metern, schnell kriegen wir wieder Farbe ins Gesicht. Das Atmen geht beim Laufen irgendwann in Keuchen über, der Rucksack wird immer schwerer und die Sehnsucht nach Ankunft immer größer. Auf dem steinigen, schmalen Fußpfad kommen uns zu dieser Jahreszeit bereits die Dorfbewohner mit Sack und Pack auf Eseln entgegen. Ihre bescheidenen Habseligkeiten sind in Decken und Tierleder verstaut. Das Huhn halten sie an den Flügeln in der Hand. Der Winter steht bald vor der Tür und sie verlassen ihre Sommerhütten und Weideplätze oben in den Bergen, um wieder ins mildere Tal zurück zukehren.
Endlich am Camp angekommen, bringt uns Mamanua frischen Bergtee zur Begrüßung. Der kleine alte Mann mit grauem Bart und dunkler sonnenherber Haut hält hier die Stellung. Außer uns sind keine Touristen da um diese Zeit. Wir bauen unser kleines Zelt mit unfassbarem Blick auf den Raikot Gletscher und Nanga Parbat auf und richten uns ein. Alam bringt noch eine dickere Matratze, als er unsere schmalen Isomatten sieht. Kaum ist die Sonne hinterm Berg verschwunden, wird es eisig. Zum Abendessen kochen wir uns passend zum Ambiente, die noch übrig gebliebenen Käsespätzle aus der Hüttenschmaus-Tütenserie von Knorr.
Die erste Nacht ist gut überstanden, unser Atem hat sich in der Früh als zarte Eisschicht an die Innenwand des Zeltes gelegt. Wir wagen den Blick nach Draußen. Das erste Bild vor Augen ist der Weiße Riese, der in der Morgensonne leuchtet. Unter der Wassertonne neben der Duschholzhütte flackert bereits das Feuer und wir gönnen uns gleich eine kurze, heiße Dusche. Danach servieren uns Alam und Mamanua ein perfektes Frühstück mit frisch gebackenem Fladenbrot, Kaffee, Ei und süßem Haferflockenbrei. Wir fühlen uns herrlich. Während ich noch akklimatisiere, gehen Micha und Alam auf kurze Tour vorbei an Seen und versteckten Bergdörfern. Hier gibt es noch Wölfe, die den Schaf- und Ziegenherden gefährlich werden. Die Menschen in dieser Gegend leben dem Anschein nach zufrieden in ihrer Abgeschiedenheit. Im Sommer, wenn die Frauen die kleinen Terrassenfelder bewässern, dürfen Touristen nicht in die Dörfer kommen. Die Frauen hier mögen es nicht, fotografiert zu werden.
Wir haben den ganzen Tag lang klaren Himmel, warme Sonnenstrahlen und beste Aussicht auf die Umgebung. Doch sobald um halb fünf die Sonne hinterm Berg untergeht, ist es Zeit für ein warmes Abendessen, dampfenden Tee und ein Feuerchen. Spätestens um acht krabbeln wir mit langen Unterhosen in den Schlafsack und ziehen unser kleines Zelt von innen zu. Am dritten Tag sind wir fit für den weiteren Aufstieg zum Aussichtspunkt auf etwa 3600 Metern. Alam kommt mit. Der Weg dorthin führt uns durch einen echten Zauberwald, über und vorbei an vereisten Bergbächen und verlassenen, kleinen Blockhütten. Dieser Ort könnte die Kulisse sämtlicher Grimm-Märchen sein. Wir können an manchen Stellen des Pfades tief nach unten ins schmale Indus Tal gucken. Nach zweieinhalb Stunden bergauf kommen wir schniefend am höchsten Punkt unserer Wanderung an. Beim weiten Blick auf Gletscher und Gipfel atmen wir tief durch und genießen still.
Das Nanga Parbat Basecamp (3.967m), von dem aus Messner und Co. ihre Gipfel-Exkursionen starten, ist von hier aus nicht mehr weit. Alam würde uns dorthin bringen, aber für noch mal vier Stunden weiterlaufen sind wir einfach nicht mehr fit genug. Dabei ist dieses Basislager das Einzige, das auch für Flachlandtiroler ohne große Erfahrung und Spezialausrüstung zu erreichen ist. Alam, der Reinhold Messner einmal als einheimischer Bergführer begleitet hat, erzählt uns, dass weit über hundert Bergsteiger ihr Leben am Killer Mountain gelassen haben. Der letzte Unfall passierte im Juli, als drei Italiener den Aufstieg versuchten und einer dabei ums Leben kam. Die Rettungsaktion der anderen beiden konnte man in den Medien verfolgen.
Der Abstieg zurück zum Fairy Meadow Camp ist erholsamer. Noch eine kalte Nacht im Zelt und dann heißt es auch schon wieder Abschied nehmen. Wir sind irgendwie benommen von unserem Aufenthalt in den Bergen, so dass wir die aufregende Abfahrt nach unserem Abstieg zum Jeeptrack sogar genießen. Tschüß Nanga Parbat! Eines Tages kommen wir vielleicht zurück, um Dich drei Wochen lang zu umrunden.

Reise-Abenteuer: Von der Haustür zum Himalaja und zurück
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Nordpakistan: Friedliche Dörfer im Herbst /nordpakistan-friedliche-doerfer-im-herbst/ /nordpakistan-friedliche-doerfer-im-herbst/#comments Sun, 05 Oct 2008 19:28:23 +0000 /?page_id=1649 Blick aufs Hunzatal, Nordpakistan 2008 (c) emmenreiter.de

Malerisch: Blick aufs Hunzatal, Nordpakistan 2008 © emmenreiter.de

Gulmit: Entspannte Menschen und spannende Brücken

Wir sind in Hunza – eine unglaublich schöne Bergregion im Norden Pakistans, in der vor vielen, vielen Jahren das Polospiel erfunden wurde. Das behaupten zumindest die Hunzeraner. Wir bleiben als erstes eine Woche im Zweitausend-Seelen-Dorf Gulmit. Schnell merken wir: Hunza ist wohl die spektakulärste Entdeckung unserer Reise. Pakistan bleibt nicht länger nur ein Transitland auf unserem Weg nach Indien, sondern hier werden wir ein Weilchen bleiben.
In Nordpakistan haben sich Menschen unterschiedlichen Ursprungs angesiedelt: Tadschiken, Chinesen, Kirgisen… Der Einfluss verschiedener Gewohnheiten ist heute unverkennbar: bei der Religion, dem Essen, in der Sprache, in den Häusern. Die Menschen im Norden haben eine besondere Mentalität. Sie sind neugierig und sehr offenherzig gegenüber Reisenden entlang des Karakorum-Highways, die ihnen neue Impulse geben. Reden und Ideen austauschen, das eigene Dasein neu betrachten – Pakistaner in Hunza haben eine positive Einstellung zum Leben.
Die Frauen in Gulmit sind kaum verschleiert, sie schlendern fröhlich und entspannt durchs Dorf. Jeder hier begrüßt uns mit einem Lächeln und auf Englisch – egal, ob Jung oder Alt. Wir werfen einen gespannten Blick in die moderne Schule. Nazir Ahmed Bulbut, der Direktor der ismaelischen Al-Amyn School, hat erreicht, dass heute die Hälfte seiner 350 Schüler Mädchen sind. Er lässt fünf Fächer in Englisch unterrichten, ein neues Schulmodell in Pakistan. Die moderne Bildung aller Kinder ist seiner Ansicht nach der Schlüssel für eine offene, tolerante Sichtweise und gute Zukunft in der globalisierten Welt. Wir freuen uns über solche Worte und wünschen ihm viel Erfolg.
In Gulmit ist bereits Nebensaison, obwohl September und Oktober die schönsten Monate zum Reisen sind: das Laub der Bäume in den Tälern färbt sich, das Wetter ist meistens klar und angenehm. Wir sind fast die einzigen Gäste im kleinen Hotel mit dem großen Namen “Gulmit Continental”, das Zahir, erst 22 Jahre alt, gehört. Er hat genügend Zeit, sich aufmerksam um uns zu kümmern. Er macht uns das Frühstück und zeigt uns danach sein Heimatdorf. Zweimal nimmt er uns mit auf eine herausfordernde Tour durch die umliegenden Berge, über die beiden großen Gletscher und am Borit-Lake vorbei. Er springt wie eine junge Bergziege über die Steine – unmöglich für uns Flachtiroler, ihm dicht zu folgen. Stolz zeigt er dabei mit seinem Finger auf die teilweise über siebentausend Meter hohen Gipfel, deren Namen wir nicht behalten können. Auf den steilen Schiefersteinpfaden bleibt uns die dünne Luft weg, da ist Zahir schon nicht mehr zu sehen. Ein echter Bergjunge eben. Zum Abschluss zwingt er uns zu einem fast lebensbedrohlichen Abstieg am felsig-sandigen Talabhang (sozusagen tiefschwarze Piste). Und dann ist da noch der spannende Weg über eine Holzbrücke, die mehr Lücken, als Bretter hat. Nach dieser Tagestour will man nur noch deftig Essen und ins Bett.
Der Ramadan ist jetzt beendet. Jeder im Dorf feiert diesen Tag. Zahir nimmt uns auf schmalen Staubwegen und an Felssteinmauern entlang mit in sein Elternhaus weiter oben im Dorf. Hier ist er geboren und aufgewachsen. Die Familie wohnt, isst und schläft in nur einem Raum. Fenster gibt es nicht. Der starke Sonnenstrahl fällt durch zwei Dachluken in die Raummitte, dort wo der kleine Blechofen qualmt. Zahirs zierliche, liebe Mutter backt auf dem Ofen Graal für uns: warme Fladenbrote aus Vollkornmehl, die vor dem Verzehr mit aromatischem Aprikosenöl und Maulbeer-Sirup bestrichen werden. Unheimlich lecker und sehr sättigend.
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Karimabad: Ein Ort zum Verlieben

Am Samstag, den 4. Oktober geht es 45 Kilometer weiter südlich, nach Karimabad. Die alte Hauptstadt von Hunza war 750 Jahre lang bis ins letzte Jahrhundert hinein der Sitz der regionalen Königsfamilie. In diesem Ort stimmt einfach alles, angefangen von der Lage mit königlichem Blick auf Tal und Berge bis zur sonnigen Unterkunft und den netten, unkomplizierten Bewohnern. Es gibt gemütliche Essstuben, kleine Läden und sogar ein Café. Zugang zum WorldWideWeb erhält Karimabad direkt über Satellit. Auf der Straße trifft man andere Abenteurer. Aus der Dusche kommt grau gefärbtes Gletscherwasser. Es ist ein kleines Paradies. Ein Basislager, von dem aus wir täglich neu entscheiden können, worauf wir als nächstes Lust haben. Die Tage hier sind kein Abenteuer, endlich machen wir mal richtig Urlaub. Wir schlafen uns aus, spazieren herum und treffen die Leute, stillen unseren Kommunikationsdurst im bestgelegenen Internetcafe der Welt, freuen uns auf das häusliche Abendessen um acht. Micha macht Fotos, blättert durch die deutsche Koran-Version und nascht Kekse vom Hunza-Bäcker. Ich schreibe Geschichten, erkundige mich über nächste Reiseschritte und genieße guten Cappuccino mit richtigem Milchschaum. Nordpakistan hat so viele einmalige Orte und landschaftliche Höhepunkte im wahrsten Wortsinn, dass es schwer fällt zu entscheiden, was wir bis zu unserer Einreise nach Indien noch unbedingt sehen möchten.

Die Erde bebt – oder: Der Gefahr entkommen

Unsere erholsame und friedliche Stimmung wird eines Abends durch eine Nachricht im Fernsehen erschüttert. Das kleine kirgisische Bergdorf Nura, in dem wir vor zwei Wochen noch bei einer Familie übernachtet haben, bevor wir nach China ausgereist sind, ist durch das Erdbeben am 6. Oktober völlig zerstört, heißt es da. Das Epizentrum lag etwa 60 Kilometer südöstlich von Sary-Tasch. Die Meldung schockt uns und wir fragen uns, was mit den Menschen passiert ist. Wir kommen ins Grübeln darüber, dass wir auf unserer Reise natürlich neuen Gefahren ein ganzes Stück näher sind. Allerdings, ob in Deutschland oder woanders in der Welt: Bei Risiken, denen wir allein durch unseren Verstand nicht aus dem Weg gehen können, müssen wir auf unserem Schicksal vertrauen. Das intensivere Lebensgefühl auf dieser Reise ist eine große Erfahrung für uns. Die Tage beginnen mit Spannung und Ungewissheit und enden oft mit einmaligen Erlebnissen.

Ausflug in die Geschichte: Baltit Fort

Wir besuchen Baltit Fort, den über siebenhundert Jahre alten Hunza-Königsitz weit oben im Dorf, der damals noch nach tibetanischem Stil errichtet und durch mehrere Herrschergenerationen erweitert und verändert wurde. In den Siebziger Jahren hat Pakistan alle Könige abdanken lassen. Der königliche Nachfahre in Hunza – Mir Muhammad Jamal Khan II – lebt heute in seinem alten Palasthaus in Karimabad und besitzt hier ein größeres Hotel. Sein ältester Sohn – Prinz Sha Salim Khan IV – lebt mit seiner Frau Sadia in Islamabad. In den Neunziger Jahren hat man die heute öffentliche Burg aufwendig und originalgetreu restauriert. Ähnlichkeiten mit dem Pottala-Palast in Lhasa sind unverkennbar. Edles Ambiente und Luxus finden sich hier nicht. Der König wohnte in der Festung eher bescheiden, nur die Lage und Aussicht sind unbezahlbar.

Kleider machen Leute

Heute haben wir beim Schneider “Abbas” im Nachbardorf Aliabad unsere pakistanischen Kleider abgeholt. Ein Pakistani-Outfit inklusive Stoff und Maßschneidern kostet maximal eintausend Rupi, also nicht mal zehn Euro. Die Männer in der Schneiderei haben breit gegrinst, als wir die traditionellen Sachen sofort an uns zur Schau gestellt haben. Die Herren tragen in Pakistan gedeckte Farben: grau, weiß, hellblau, beige oder braun. Den Frauen stehen traumhaft viele Farben und Muster zur Auswahl. Das Pakistani-Outfit, bestehend aus einer etwas weiter geschnittenen Hose und einem knielangen Hemd, ist extrem bequem. In Hunza tragen Männer außerdem eine Wollkappe in weiß oder braun.

Langsam nähern wir uns der Grenze nach Hindustan

12. Oktober. Wir verabschieden uns morgen Vormittag aus Karimabad. Leider! Die Tage hier waren einfach schön. Zum Abschied wandern wir noch elf Kilometer nach oben zum Aussichtspunkt bei Duikar – dem höchsten Dorf in Hunza. Von hier aus können wir das ganze Tal mit den Dörfern Garnish, Karimabad und Altit überblicken. Wir sehen die Schlucht des Hunza Rivers, die teilweise schon abgeernteten Feldterassen der Bauern und natürlich die unwirklichen siebentausender Gipfel Diran und Rakaposhi. Solange der Herbst mit milden Temperaturen und klarem Himmel aufwartet, genießen wir jetzt noch an ein paar anderen Stellen im nördlichen Pakistan die stille Gebirgsnatur. Bevor wir Ende Oktober nahe Lahore über die indische Grenze knattern, gönnen wir uns bei Fairy Meadow noch einen Blick auf den weißen Nanga Parbat, dem 8125-Meter-Bergriesen, auf dem einige deutsche Bergsteiger beim ehrgeizigen Versuch eines Aufstiegs ihr Leben lassen mussten. Von dort aus geht es auf dem Karakorum-Highway zügig weiter nach Süden, vorbei an Islamabad nach Lahore mit Übernachtungsstopps in Besham, Abottabad und Rawalpindi. In diesen Orten ist es besser, wenn wir nach dem Absteigen von unseren Motorrädern jedesmal in die traditionelle Kleidung schlüpfen und ich meinen Kopf bedecke. Nicht nur eine Frage des Respekts, sondern auch der Lebensart. Die (neu)gierigen Blicke der Männer auf mich sind damit etwas angenehmer.
Auf unsere Zeit in Indien und Nepal sind wir schon sehr, sehr gespannt! Wir haben gestern Olga und Monica – zwei viel gereiste Spanierinnen – getroffen, die beide Länder schon lange kennen und uns einige Tipps gaben.

Reise-Abenteuer: Von der Haustür zum Himalaja und zurück
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