{"id":12993,"date":"2017-06-29T11:35:38","date_gmt":"2017-06-29T09:35:38","guid":{"rendered":"http:\/\/www.emmenreiter.de\/?page_id=12993"},"modified":"2019-07-14T09:08:02","modified_gmt":"2019-07-14T07:08:02","slug":"mongolei-mit-motorrad","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/www.emmenreiter.de\/mongolei-mit-motorrad\/","title":{"rendered":"Mongolei: Zwischen Sonne und Schatten"},"content":{"rendered":"
\"Sonne

Sonne und Schatten in der Mitte der Mongolei \u00a9 emmenreiter.de<\/p><\/div>\n

Sonne in Ulan Bator<\/h2>\n

29. April 2017. In Ulan Bator scheint die Sonne. Ziemlich grell sogar. Kein Wunder, die Mongolei hat im Jahr angeblich 260 Tage blauen Himmel zu bieten. Es weht ein k\u00fchler Wind, als wir zusammen mit wenigen anderen Leuten aus dem unscheinbaren Geb\u00e4ude des \u201cChinggis Khaan\u201d-Flughafens an die frische Luft treten. Das Gel\u00e4nde ist alles andere als schick. Sogar hier kreuzen sich Schotter- und Sandwege. In der Mongolei ist die Steppe immer nur einen Steinwurf entfernt.
\nDer Taxifahrer f\u00e4hrt uns wie ein wilder Hengst zum Hotel. An uns vorbei ziehen die bunt durcheinander gew\u00fcrfelten Geb\u00e4udearten von UB (Ju Bie<\/em>), wie viele Mongolen ihre Hauptstadt heute weltm\u00e4nnisch nennen: ein Kraftwerkmonster, neue und marode Wohnbl\u00f6cke, flache Baracken, zweckm\u00e4\u00dfige L\u00e4den und Restaurants, verglaste B\u00fcroh\u00e4user und sogar Jurten \u00ad\u2013 kaum sichtbar hinter hohen, blickdichten Z\u00e4unen. Diese Stadt hat immer noch gen\u00fcgend sowjetischen Charme. Eine Fabrik verspr\u00fcht den Duft von frischem Brot. An der Ampelkreuzung stechen zwei \u00e4ltere Mongolinnen durch ihre traditionelle Kleidung aus den Fu\u00dfg\u00e4ngern heraus. Die kr\u00e4ftigen Farben ihrer hochgeschlossenen, kn\u00f6chellangen Seidenm\u00e4ntel schimmern im Sonnenlicht. Die Frauen wirken darin, trotz ihrer wenig zierlichen Statur, so anmutig und elegant.<\/p>\n

Zentralmongolei: Auf Mustangs in die Steppe<\/h2>\n

Um die Weite der Mongolei zu erfahren, steigen wir auf chinesische Motorr\u00e4der um: zwei Mustang Shineray, 150 ccm. Viele Nomaden reiten darauf ebenfalls durch die Steppe. Jedenfalls werden wir in den n\u00e4chsten vier Wochen mehr Mongolen auf einem klapprigen Motorrad, als auf dem Pferd sehen. In Ulan Bator steigt dagegen niemand auf ein Motorrad. Die Stadt wimmelt von Toyota Prius. Der Autoverkehr hat hier in den letzten Jahren so weit zugenommen, dass ein regelm\u00e4\u00dfiges Fahrverbot verh\u00e4ngt wurde: Je nach Endziffer auf dem Kennzeichen muss der Wagen an einem bestimmten Wochentag stehen bleiben.
\nNachdem wir alle Sachen f\u00fcr die Steppe besorgt und beide Motorr\u00e4der beim Verleiher abgeholt haben, \u00e4ndert sich pl\u00f6tzlich das Wetter. In der k\u00e4ltesten Hauptstadt der Welt f\u00e4llt die Tagestemperatur von fast 30 Grad gegen Null. So ein Umschwung ist normal in der Mongolei, vor allem im \u00dcbergang vom Winter zum Sommer.
\nZwei Tage sp\u00e4ter satteln wir dann bei Sonne und angenehmen 13 Grad die Mustangs. Etwa 30 Kilometer hinter Ulan Bator geht die neue Asphaltstra\u00dfe abrupt in eine staubige Piste \u00fcber, die sich in alle m\u00f6glichen Richtungen bis auf die H\u00fcgel am Horizont verzweigt. An meinem Lenker ist das Smartphone mit der Navi-App befestigt. Ich frage mich, wie hilfreich die App in der Steppe sein kann. Micha hat au\u00dferdem einen detaillierten mongolischen Stra\u00dfenatlas an sein Motorrad geklemmt, der unter anderem anzeigt, wo wir sumpfiges oder sandiges Gel\u00e4nde zu erwarten haben.
\nIrgendwie hatte ich heute am Tag der Abfahrt mit mehr Enthusiasmus gerechnet. Immerhin haben s\u00e4mtliche Reiseberichte und Reportagen ein gigantisches Bild in unsere K\u00f6pfe gemalt \u2013 von der endlosen Weite der Mongolei, den freilaufenden Tierherden und hier und da auf dem Gras die wei\u00dfe Jurte einer gastfreundlichen Nomadenfamilie. Stattdessen frage ich mich gerade, wie uns die Zweisamkeit in der mongolischen Steppe nach Monaten im quirligen S\u00fcdostasien gefallen wird.
\nUm uns herum macht sich eine Landschaft breit, die von einem langen harten Winter ausged\u00f6rrt ist. Wir folgen den Fahrspuren \u00fcber das armselige Grasgeflecht, das mehr ocker als gr\u00fcn ist, und sto\u00dfen bald auf einen kleinen Ort, dessen Sandwege kreuz und quer um die H\u00e4user verlaufen. Hier in Altanbulag wissen wir nicht, wohin wir weiterfahren sollen. Die Mongolei hat keine Wegweiser. Autospuren daf\u00fcr umso mehr. Also fahren wir nach Himmelsrichtung \u00ad\u2013 S\u00fcdwesten. Bei 360 Grad freier Fahrt muss man sich irgendwie entscheiden. Die einzigen Hindernisse, die uns ausbremsen k\u00f6nnen, sind Viehherden, Erdw\u00e4lle, Gr\u00e4ben, tiefer Sand, Gestein oder rutschige Flussl\u00e4ufe. Das ist ein Paradies f\u00fcr Offroadfahrer \u2013 sogar auf kleinen, chinesischen Motorr\u00e4dern, wenn man von der halbherzig durchgef\u00fchrten Wartung absieht.<\/p>\n

Steppe im Fr\u00fchling<\/h2>\n

Am zweiten Tag streifen wir die Gobi. Harte, trockene Grasb\u00fcschel halten dem W\u00fcstenboden stand. Wir eiern mehrere Stunden durch die weichen Spuren im Zuckersand. Mein Sitzfleisch brennt, als wir nachmittags die Tankstelle in Buren erreichen. Wie viele mongolische Steppend\u00f6rfer taucht der Ort pl\u00f6tzlich hinter einem H\u00fcgel auf. Mit den knallbunten D\u00e4chern in orange, pink, lila, gr\u00fcn und blau wirken sie wie ein Spielzeugdorf auf Sand und Gras \u00ad\u2013 und wir sind erstaunt, auf wie viele dieser D\u00f6rfer wir treffen. Immerhin leben in der ganzen Mongolei weniger Leute als in Berlin und die meisten davon, etwa 70 Prozent, in Ulan Bator und anderen St\u00e4dten.
\nZum Abend hin bauen wir in Sichtweite der Stromleitung, die heute die Weite durchzieht, das Zelt auf. Die Holzmasten werden uns am n\u00e4chsten Tag die Richtung weisen.
\nAls ich morgens nach dem Aufstehen den dampfenden Fr\u00fchst\u00fcckstee in unsere faltbaren Plastiktassen gie\u00dfe, bekommen wir Besuch aus der etwa einen Kilometer entfernten Nachbarjurte. Der \u00e4ltere Mongole steigt wortlos von seinem Motorrad. Er tr\u00e4gt den traditionellen Mantel, den er am Bauch mit einem goldgelben Tuch umwickelt hat. Unter dem sogenannten Deel gucken seine derben Lederstiefel hervor. Ich reiche unserem Besucher den frischen Tee und er setzt sich, immer noch schweigend, zu uns ans Zelt. Zwischendurch holt er ein kleines Fernglas hervor und sucht am Horizont nach den Pferden und Schafen. Seine Aufgabe ist es, die Tiere an die beste Grasstelle zu treiben. Dass so viele mongolische Viehhirten dies nicht reitend, sondern auf dem Motorrad oder sogar im Auto machen, liegt vielleicht daran, dass die Pferde vom Winter noch zu geschw\u00e4cht sind. Auf jeden Fall ist es schneller und bequemer so.  Ihr Motorrad schonen die Nomaden dagegen nicht. In der Steppe liegen trostlose Metallteile herum, die davon abgefallen sind. In den ersten Tagen z\u00e4hlen wir vier abgebrochene Fu\u00dfbremshebel, wie er auch an unserem Modell montiert ist.
\nDer alte Nomade hat es nicht eilig. Wir laden ihn noch auf ein Spiegelei ein, bevor er davonf\u00e4hrt und wir unsere Jurte aus Ripstop-Nylon wieder im Gep\u00e4ck verstauen.
\nObwohl nur noch eine Minderheit der Mongolen mobile Weidewirtschaft betreibt, passieren wir mehrmals am Tag eine Jurte. Allerdings f\u00fchren die Wege nur selten direkt an den Filzbehausungen vorbei. Man muss sie schon gezielt anfahren, um die Familie zu besuchen \u2013 sofern die be\u00e4ngstigenden Wachhunde einen heranlassen. Auch wenn man hierzulande als Gast traditionell keinen Anlass braucht, tun wir uns schwer damit, grundlos an einer Jurte aufzutauchen. Was uns dazu noch verwirrt, sind die ernsten Gesichter der Einheimischen, denen wir in der Steppe begegnen. Nicht selten bleibt unser Winken und Gr\u00fc\u00dfen unerwidert.
\nAuf dem Weg zum buddhistischen Bergkloster T\u00f6wch\u00f6n Chiid weckt uns in der Fr\u00fche das gen\u00fcssliche Grunzen einer Yakherde, die grasend an unserem Zelt vorbeizieht. Wir kriechen nach drau\u00dfen, begr\u00fc\u00dfen unsere friedlichen Besucher, waschen uns mit dem eisigen Flusswasser den Schlaf aus den Augen und genie\u00dfen den sonnigen, windstillen Morgen. Ich liebe das Ger\u00e4usch der zischenden Flamme am Campingkocher \u2013 sie sagt mir, dass es gleich duftenden Kaffee und leckeres Spiegelei gibt. Als wir sp\u00e4ter weiterfahren wollen, suhlt sich eine tr\u00e4chtige Yakkuh auf dem Boden und bringt vor unseren staunenden Augen ihr Kalb zur Welt. Die ganze Steppe ist derzeit voller Tierkinder. Fohlen, K\u00e4lber, L\u00e4mmer und Zicklein springen mit ihren langen d\u00fcnnen Beinen ungehalten umher und versuchen, sich hinter ihren M\u00fcttern zu verstecken, wenn sie sich vor unseren Mopeds erschrecken.
\nAb T\u00f6wch\u00f6n Chiid folgen wir dem Orchon-Fluss auf n\u00f6rdlicher Seite nach Karakorum \u2013 zu den Tempeln und \u00dcberresten der Hauptstadt des einstigen mongolischen Imperiums. Irgendwo m\u00fcssen wir den Fluss \u00fcberqueren, um die St\u00e4tte zu erreichen. Wir suchen eine Jurte auf, um nach der n\u00e4chsten Br\u00fccke zu fragen. Nachdem wir uns mit den beiden Frauen und drei M\u00e4nnern dank Zettel und Stift \u00fcber den besten Weg beraten haben, bitten sie uns noch auf eine Schale frischen Joghurts herein. Ihre Jurte ist pragmatisch eingerichtet. Neben dem Ofen in der Mitte steht ein kleiner Tisch mit Holzhockern auf dem mit Linolium ausgelegten Boden. Ringsum am Rand verteilen sich drei Betten. Dazwischen stehen ein K\u00fchlschrank und eine Kommode \u2013 best\u00fcckt mit kleinem Flachbildschirm, Bildern und Abzeichen als das einzig dekorative in der Behausung. Strom kommt vom Solarkollektor.
\nNach drei Tagen in Karakorum, wo wir in einem Jurtencamp gewohnt haben, treffen wir bei der Weiterreise zur Abwechslung auf Asphalt. Trotz Wind von vorn d\u00fcsen wir mit 70 km\/h im Augenschein der Greifv\u00f6gel dem Wei\u00dfen See \u2013 Terkhiin Tsagaan Nuur \u2013 entgegen. Als wir eine Pause am Stra\u00dfenrand machen, halten auch zwei jugendliche Mongolen im Deel mit ihrem Motorrad an, um uns zu gr\u00fc\u00dfen. Nachdem wir unser Obst und S\u00fc\u00dfigkeiten mit ihnen geteilt haben, fahren sie ungewohnt fr\u00f6hlich und winkend weiter. Leider merke ich auch gleich den Grund daf\u00fcr. Als ich zur\u00fcck auf mein Motorrad steige, sehe ich n\u00e4mlich, dass das Smartphone nicht mehr am Lenker steckt. Da sind die beiden Diebe allerdings schon \u00fcber alle Steppenh\u00fcgel verschwunden.
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