Das Abenteuer Indien beginnt

GoldenerTempel-Inderinnen

Goldener Tempel: Indien empfängt uns mit offenen Armen

Wir haben im Vorfeld so viele gegensätzliche Meinungen über Indien gehört. Umso gespannter sind wir, was wir in diesem Land, dem wir mehrere Monate unserer Reise widmen, erleben werden. Als wir gegen Mittag dreißig Kilometer hinter der pakistanisch-indischen Grenze in die nordindische Stadt Amritsar einfahren, halten wir gleich nach dem Goldenen Tempel Ausschau. Das Straßenbild ist ähnlich wie in Lahore. Erstaunlicherweise ist es sogar weniger chaotisch, leiser und etwas aufgeräumter. Kleine, grüne Wegweiser führen uns einigermaßen unkompliziert zur heiligsten Stätte der Sikhs: Der vergoldete Tempel inmitten von Amritsar ist von einem großen Becken mit heiligem Wasser, dem sog. Nektar, umgeben. An diesem Ort der Ruhe möchten wir zusammen mit den Tempelpilgern ein, zwei Tage verbringen und das besondere Flair spüren. Bei den Sikhs die Männer sind gut erkennbar am typischen Turban und Vollbart ist jeder Mensch, egal welcher Religion oder Klasse, jederzeit willkommen. Das große Tempelgelände ist durch verschiedene weiße, stilvolle Gebäude eingegrenzt. Wir stehen durchgeschwitzt und mit laufenden Motoren vor dem großen Eingangstor des Tempelgeländes. Ein Wachmann mit lilafarbenem Turban und im weißen, knielangen Kleid winkt uns zu. Als ausländische Besucher dürfen wir mit unseren Motorrädern durchs große Tor auf das heilige Gelände fahren. Der Wächter dirigiert uns sofort und mit einem Lächeln auf den sonnigen Innenhof des großen Pilgerwohnhauses Sri Guru Ram Das Niwas, wo wir die MZs direkt vor unserer Schlafkammer abstellen dürfen. Für eine kleine Spende sind wir herzlich eingeladen, hier zu übernachten. Wir freuen uns über diese offenherzige Begrüßung. Es ist den Sikhs scheinbar eine Ehre, dass wir ihren Tempel besuchen. Dabei empfinden wir es genau anders herum. Über den Innenhof und das ganze Gelände wandern Pilger. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre, die Umgebung ist hell und rein. Bunte Kleider und Fahnen setzen wunderschöne Kontraste. Die Leute beobachten uns neugierig beim Abladen der Motorräder. Die Sachen bringen wir in unsere Kammer, die wir uns zwei Tage lang mit einer quicklebendigen Maus teilen. Sie hat es sich in unseren Taschen gemütlich gemacht.
Wir wechseln die schwitzigen Motorradklamotten gegen normale Kleidung und stöbern eine Weile durch die Ladenstraßen in der näheren Umgebung des Tempelgeländes. Im warmen Licht der Abendsonne wollen wir dann den Golden Tempel zusammen mit den Pilgern umrunden. Bevor wir die Parkama – den marmorierten Gehweg um den Tempel bzw. den Pool herum – betreten dürfen, müssen wir beide unser Haupt bedecken, die Füße entkleiden und reinigen. Dann schreiten wir barfuß über den kühlen, weißen Mosaiksteinboden am Wasser entlang und blicken bei unserem Rundgang auf die sonnengoldene heilige Stätte. Aus Lautsprechern hören wir die Klänge und Gesänge der Tempelpriester, die gerade die tägliche Abschlusszeremonie abhalten: das heilige Buch der Sikhs – Guru Granth Sahib – wird für heute rituell geschlossen. Am Ende des Rundgangs gehen wir in die Guru-Ka-Langar – die große Essenshalle, in der rund um die Uhr zigtausende Pilger pro Tag gemeinsam auf dem Boden ein kostenloses Mahl einnehmen. Das zelebrierte Gemeinschaftsessen ist eines der Merkmale des Sikhismus und symbolisiert die Einigkeit der verschiedenen Menschen. Wir setzen uns mit einem Blechteller in der Hand mit den Anderen in die Reihe und warten auf die freiwilligen Helfer, die ohne Pause Linsenbrei, Milchreis und Fladenbrot aus großen Behältern verteilen. Das frische Fladenbrot wird nur mit beiden zur Schale geformten Händen entgegengenommen. Nach dem einfachen und leckeren Mahl schleichen wir glücklich in unsere Schlafkammer zurück. Mittlerweile haben sich das Pilgerhaus und dessen ganzer Innenhof mit schlafenden Männern, Frauen und Kindern gefüllt. Aus der Küche des Tempels klappert immer noch das Blechgeschirr, das die freiwilligen Helfer pausenlos abwaschen.
Am zweiten Tag reihen wir uns in die Pilgerschlange auf der Brücke zum Goldenen Tempel ein und sehen uns zum Abschied die schmuckvolle heilige Sikhstätte von innen an. In der Tempelmitte lesen Priester im Schneidersitz aus dem heiligen Buch, spielen Instrumente und singen. Nacheinander umkreisen die Pilger das Geschehen und verbeugen sich bis auf den Boden. Nach einem kurzen Frühstück packen wir schon wieder unsere Sachen und verlassen den Ort, der uns so friedlich und offen empfangen hat. Heute haben wir vor, Nishan – ein 26 Jahre alter, verheirateter Sikh – zu besuchen, der eine Stunde außerhalb von Amritsar im Dorf Mehta Chowk lebt. Wir haben ihn am ersten Abend im Internetcafè nahe des Goldenen Tempels kennengelernt, als er uns völlig unbedarft bat, ihm am PC zu helfen. Er saß zum ersten Mal am Computer und wollte sich im Internet über eine dringende Versicherungssache kümmern. Micha hat ihm geduldig geholfen und ihm seine erste E-Mail-Adresse eingerichtet. Zum Dank lud er uns herzlich ein, ihn in seinem Zuhause zu besuchen. Diese Einladung können wir nicht ablehnen.

Drei Tage mit den Sikhs: Zuhause bei Nishan

Wir reisen ausgeruht aus dem Goldenen Tempel ab und machen uns auf den Weg nach Metha Chowk, wo wir eine Nacht lang bleiben wollen, bevor wir zum Dalai Lama weiterfahren. Mal sehen, was uns bei Nishan und seiner Familie erwartet. Kurz vor Metha Chowk kommen uns Nishan und sein Vater bereits auf einer kleinen Honda Hero entgegen. Sie haben sorgevoll auf uns gewartet. Nishan strahlt übers ganze Gesicht, als er uns am Straßenrand begrüßt: „I am so happy!” Mit ihnen vorweg fahren wir gemeinsam zum Haus, in dem Nishan mit seiner 18jährigen Frau Rupinder, seiner noch unverheirateten vier Jahre jüngeren Schwester und seinen Eltern lebt. Das Haus ist umringt von kleinen Reis-, Raps- und Zuckerrohrfeldern. Auf dem kleinen Hof stehen zwei riesige Wasserbüffelkühe. Die drei Zimmer im Haus sind spartanisch eingerichtet. Ein Fernseher mit Digitalempfang und ein DVD-Player dürfen wie überall nicht fehlen. Gewaschen wird sich an der Pumpe und im Wasserbecken auf dem Hof. Für die Toilette geht man einfach aufs Feld.
Nishan und seine Familie geben uns das Gefühl, zuhause zu sein. Die drei Frauen bereiten uns sitzend auf dem Boden des Hofes würziges, vegetarisches Essen und Pudding aus frischer Kuhmilch zu. Wir setzen uns aufs große Bett in Nishans Schlafzimmer und werden liebevoll bedient. Seine Frau Rupinder beobachtet uns neugierig und verlegen, während Nishan uns mit höchster Aufmerksamkeit umsorgt. Er nimmt uns später mit in den Dorftempel und abends tanzen wir mit seiner jungen Frau und temperamentvollen Schwester nach Punshabi-Musik ums Bett herum. Bevor wir schlafen gehen, bittet uns Nishan mit einem unwiderstehlichen Blick, noch einen Tag länger zu bleiben und an der Verlobung seiner Schwester teilzunehmen. Das sei sicher interessant für uns.
Die Familie gehört zu den Frühaufstehern. Morgens um halb sieben klopft Nishan, der seit fünf Uhr wach ist, ungeduldig an die Zimmertür. Das Frühstück ist längst fertig! Er lässt uns keine fünf Minuten. Noch ganz verschlafen ziehen wir uns an und schon stehen das Essen und der süßwürzige Milchtee vor uns auf dem Bett. Draußen herrscht heute „weiße Dunkelheit“. Damit meint Nishan den dichten Frühnebel, der das Dorf einhüllt. Es ist kühl und die Sonne steht noch tief.

Die Verlobung mit dem Fremden

Heute gegen Mittag findet die Verlobung im Haus der bereits verheirateten Schwester statt. Nach einem kurzen Besuch bei den Nachbarn ist es Zeit für ein Wasserpumpenbad und saubere Kleidung. Ein feierliches Outfit gibt unsere Reisegarderobe leider nicht her. Allerdings verziert Nishans Schwester meine Hände mit Henna, seine Frau lackiert mir derweil Finger- und Fußnägel. Dann werden noch meine Augenbrauen mit einem verzwirbelten Bindfaden schmerzhaft gezupft. Den beiden Frauen macht meine Verschönerung sichtlich Spaß. Ich wundere mich nur, warum so viel Zeit in mich investiert wird. Bei der Braut ist keinerlei Aufregung zu spüren. Man könnte meinen, ich sei diejenige, die heute verlobt werden soll. Micha schaut solange zu, wie sich Nishan einen festlichen Turban über die sikh-typisch nach vorne verknoteten, langen Haare bindet. Fertig zur Abreise fahren wir zu dritt auf der Honda ins Haus der anderen Schwester. Der Rest der Familie kommt mit einem Auto nach. Wir haben keine Ahnung, wie die Verlobung vonstatten gehen wird. Wir wissen nur, dass die jeweiligen Eltern das Zusammentreffen arrangiert haben. Nishans Schwester kennt ihren zukünftigen Verlobten noch nicht.
Als wir im Hause der Verlobung ankommen, warten schon ein paar Familienmitglieder beider Parteien dort. Frauen und Männer sitzen in getrennten Zimmern und trinken Tee. Nishans Schwester ist nun doch langsam nervös. Ich sitze neben ihr mit den anderen Frauen und halte ihre kalte Hand. Sie sagt nichts und lächelt nur einen kurzen Moment. Nach einer ganzen Weile des Wartens heißt es, dass sich beide Elternpaare der Verlobung ihrer Kinder einig sind. Jetzt muss nur noch der zukünftige Ehemann zustimmen. Ein junger, fremder Mann betritt das Frauenzimmer und setzt sich schweigend auf den Stuhl, der vor seiner möglicherweise zukünftigen Frau steht. Für eine gewisse Zeit sitzen sich beide wortlos gegenüber. Die Blicke treffen sich nicht. Dann verlässt der junge Mann den Raum und Unruhe macht sich breit. Kurze Zeit später Erleichterung in allen Gesichtern: Er hat der Wahl seiner Eltern nichts entgegenzusetzen. Damit steht die Verlobung. Für Micha und mich ist es unvorstellbar, was da gerade vor unseren Augen vonstatten ging. Zwei junge Menschen, die noch nie miteinander gesprochen haben, sollen bald ihr zukünftiges Leben miteinander teilen. Nishans Schwester und die ganze Familie scheinen erleichtert. Trotzdem senkt die Braut demonstrativ und wie es die Tradition verlangt ihren Kopf, als das Paar fürs feierliche Foto posiert.
Als wir alle wieder zuhause sind, macht es den Eindruck, als wäre heute nichts Besonderes geschehen. Wir essen irgendwann zu Abend – diesmal mit dem geliebten Milchreis zum Nachtisch – und lassen den Tag gemeinsam ausklingen. Morgens heißt es wieder früh aufstehen. „Schenkt mir noch vierundzwanzig Stunden, dann könnt ihr weiterreisen,” sind Nishans erste Worte, als er sich zu uns aufs Bett setzt. Er möchte uns noch so viel zeigen: den Hindutempel, den Markt, seine alte Schule. Wir bleiben gern, versuchen ihn aber ein wenig zu bremsen. Seit einem Unfall bei der Armee leidet er nämlich an starken Rückenschmerzen und versucht dies vor uns zu verbergen. Wir merken, dass er sich manchmal regelrecht quält und gehen diesen Tag ruhiger an. Wir beschäftigen uns gemeinsam mit den normalen Dingen. Ich helfe der Mutter beim Kochen. Nishan und sein Vater helfen Micha bei der Wartung der MZ. Und morgen Vormittag steht der Abschied an. Von neuen Freunden.

Motorradfahren in Indien

Im letzten Monat sind wir nur tausend Kilometer gefahren. Allerdings waren die Straßen teilweise ziemlich schlecht. Micha wirft sicherheitshalber noch einmal einen Blick in die Radlager meines MZ-Hinterrades. Alles dreht sich. Die Speichen bei Michas MZ halten auch. Der Spritverbrauch hat sich ebenfalls etwas verringert und liegt jetzt bei fünfeinhalb bis sechs Liter pro hundert Kilometer. Brave MZ!
Übers Motorradfahren in Indien haben wir vorher nur Schlimmes gehört. Da wir schon viele Länder durchquert haben, sind wir verschiedene Fahrverhalten zum Glück gewöhnt. Die neue Straßenverkehrs”ordnung” können wir somit schnell adaptieren. Auch der Inder fährt immer dort, wo gerade Platz ist. Allerdings sind sehr viele Inder gleichzeitig unterwegs und viele haben es eilig. Motorradfahren wird zum hoch konzentrierten Hindernisparcour. Am rabiatesten und bedrohlichsten sind die Busfahrer, die sich mit ihrer laut trötenden Hupe wie ein Elefant auf der Flucht durch den Straßendschungel drängeln. Vor jedem Überholen müssen wir die MZ-Hupe drücken als freundliche Warnung für den Vordermann. Für Schulterblick haben die Inder nämlich keine Zeit. Bei Lichthupe von vorn muss schnellstmöglich ausgewichen werden – oder man nimmt einen mutigen Kampf auf, wenn man auf sein Fahrspurrecht bestehen will. Dann sollte man allerdings die Größe des Entgegenkommenden gut abschätzen. Denn je größer desto gewaltiger und desto mehr Vorfahrt.
Wir werden nun unsere weitgereisten Motorräder – zumindest in die Nähe – des Dalai Lamas bringen. Eine heilige, friedvolle Segnung Seiner Heiligkeit hätten sie verdient.

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3 Gedanken zu “Das Abenteuer Indien beginnt

  1. Schön, wieder was von euch zu lesen und sehen.
    Möge euch nicht durch die begrenzt Visa-Laufzeit die Muße abhanden kommen!
    Wahrscheinlich sind für uns die Nachrichten aus Pakistan und dem Iran mulmiger, als für euch vor Ort.
    Jedenfalls wünschen wir euch alles Gute und „verfolgen“ euch laufend.
    Bei Globetrotter sind eure Er-Fahrungen auf nächsten Etappen sehr von Interesse, denn die spielen mit dem Gedanken, Iran und/oder Pakistan mit Fahrrädern zu erkunden.
    Auch kein schlechtes Abenteuer. 🙂
    Haltet die Ohren steif und machts gut!
    Martin

  2. Na, da habt ihr ja in Indien gleich einen guten Empfang gehabt. Ich denke, das ist es, was eure Tour ausmacht: Nicht nur grandiose Landschaften und Lebensumstände, sondern ganz besonders die Menschen! Lasst euch die Abschiede nicht zu schwer werden. In Zeiten moderner Kommunikation ist es doch schon um einiges leichter, in Kontakt zu bleiben. Was nicht ausschließt, dass ich mich über eure Postkarte AUCH gefreut habe 😉
    Wenn ihr in Nepal auf einen Günter aus Hamburg trefft, grüßt ihn schön. Er war u.a. letztes Wochenende zum außerplanmäßigen Routenplanungs-Workshop bei mir und quasi schon auf dem Sprung. Daher konnte er nicht auf den nächsten regulären Workshop warten, aber das kennt ihr ja…
    Mein Google-Earth-Overlay bekommt jetzt aber erstmal die neuen Fähnchen von euch!
    Machts gut und lasst euch nicht aus gem Gleichgewicht bringen, wir freuen uns auf jeden neuen Bericht von euch.
    Beste Grüße aus dem trüb-kalten Hamburg
    Martin

  3. Hallo Ihr Zwei,
    Indien – mann o mann ich beneide Euch. Ich glaube, bis ihr alle Erlebnisse richtig verdaut habt, vergehen Monate. Toll wieviel verschiedenartige Menschen, Landschaften und Kulturen ihr kennenlernt auf Eurer langen Reise. Aber das Schöne ist, dass Ihr uns teilhaben lasst.
    Weiterhin gute Reise, pannen und Unfallfrei – schaue JEDEN Abend nach neuigkeiten von Euch!!
    Gruss
    Fränky