Russland – eMMenreiter Reiseabenteuer auf alten MZ-Motorrädern Fri, 07 Aug 2020 09:16:11 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.0.2 /wp-content/uploads/2015/03/reise-551a6390v1_site_icon-32x32.png Russland – eMMenreiter 32 32 In der Transsib nach Europa /transsib-baikal-bis-moskau/ /transsib-baikal-bis-moskau/#comments Sat, 15 Jul 2017 14:55:42 +0000 /?page_id=12995 Transsib Provodnas

Unsere Wagondamen, Provodnas genannt, auf der Transsib-Strecke Krasnojarsk bis Moskau © emmenreiter.de

Nächster Halt: Sibirien

6.265 Kilometer. Im Zug. Von Ulan Bator bis Moskau. Mit unseren alten Motorrädern bräuchten wir Monate, um diese Strecke entspannt hinter uns zu bringen. Die Transsibirische Eisenbahn schafft das in wenigen Tagen und Nächten. Sie wird uns durch sechs Zeitzonen zurück nach Europa schuckeln. Allerdings nicht im selben Zug, denn wir wollen unbedingt noch das Naturwunder Baikalsee erleben. Das “heilige Meer“ Sibiriens ist so groß, so tief , so alt und so geheimnisvoll wie kein anderer Süßwassersee der Erde. Er zieht Einheimische, Reisende und Forscher in seinen Bann. Die Burjaten, die mongolisch stämmige Urbevölkerung der Region, verehren ihn als größte Schöpfung der Natur. Allein um die gigantische Wassermenge des Baikals zu erreichen, müssten sämtliche Flüsse der Welt ein ganzes Jahr lang zusammenströmen, heißt es.

7. Juni 2017. Morgens um halb neun. Die Mongolei liegt hinter uns. Nach 35 Stunden und 50 Minuten hält unser Zug Nummer 362 in Irkutsk. Die Zeitzone haben wir bis hierher nicht gewechselt. Unsere erste Zugetappe im Viererabteil mit zwei jungen Touristinnen aus China und Kalifornien war bequem und ruhig. Abgesehen vom Schnarchen der Chinesin. Am Grenzübergang liefen der mongolische und der russische Grenztrupp nacheinander durch alle Abteile, stempelten Reisepässe ab und kontrollierten das Gepäck. Eine Stunde vorher hatte uns Provodna Natalia – Provodna nennt man die Frauen, die pro Wagon im Doppel die Zugfahrt begleiten – aus den schmalen Betten geholt. Danach stand unser Wagon, abgekoppelt vom Rest des Zuges, mehrere Stunden allein auf dem Gleis, bevor die Reise mit einer anderen Lok weiterging.
Natalia gab sich viel strenger, als sie in Wahrheit ist. Aber das gehört zum berüchtigen Image ihres Berufs dazu. Zusammen mit ihrer Kollegin, die deutlich fröhlicher wirkte, sorgte sie in unserem Zugwagon dafür, dass niemand falsch ein- und ausstieg, die Toiletten und der Gang sauber blieben und jeder Fahrgast die bereitgestellte Bettwäsche wieder abzog, bevor er endgültig den Zug verließ. In den Pausen vertrieben sich unsere Provodnas in ihrem eigenen kleinen Abteil am Ende des Wagons die Zeit mit Sticken und rückten für jede nächste Schicht ihre Frisur zurecht.

Der inoffizielle Taxifahrer am Passagier-Bahnhof von Irkutsk fährt uns an diesem Morgen über die Angara zum Hostel. Sie ist der einzige Fluss, in dem das Wasser vom Baikal abfließt. Wir vertreten uns nachmittags in den Seitenstraßen der Innenstadt die Beine. Früher soll Irkutsk fast ausschließlich aus Holzhäusern bestanden haben. Bis heute haben eine Menge der teils prächtigen Holzbauten unzählige sibirische Winter und sogar Erdbeben und Stadtbrände überlebt. An den aufwändigen Rahmenverzierungen ihrer riesigen Fenster, die im Erdgeschoss fast bis an den Boden reichen, ist die Farbe schon lange verblichen oder abgesplittert und die meisten Gebäude müssten dringend saniert werden. Trotzdem sind sie noch bewohnt. Hinter eingerissenen Fensterscheiben ranken Zimmerpflanzen und sonnen sich gepflegte Stubentiger. Einige Häuser stehen so schief, dass wir uns fragen, ob drinnen nicht die Bücher vom Regal kippen oder die Äpfel vom Tisch rollen.
Es ist herrlich, endlich wieder durch eine historisch gewachsene Stadt zu laufen – vorbei an imposanten Gotteshäusern, durch Grünanlagen und Straßenzüge mit charmanten Altbauten aus Ziegelstein, Überbleibseln sowjetischer Architektur und modernen Gebäuden. Auch die verschiedenen Gesichter der Menschen in Irkutsk lassen erkennen, dass hier eine bunte Mischung zusammenlebt ­– europäisch, sibirisch, zentralasiatisch. Sie wirken auf uns, trotz der Rauheit, die Sibirien nachgesagt wird, sehr gelassen und freundlich.

Olchon-Insel: Ferien am Baikalsee

Wir fahren in der Marschrutka, einem Kleinbus-Sammeltaxi, am Westufer des Baikals entlang zur Insel Olchon. Im Winter fahren die Wagen einfach über das Eis. Im Sommer setzt eine Fähre über. Bei der kurzen Überfahrt verdeckt die große hügelige Insel noch den freien Blick auf das „heilige Meer“. Drüben angekommen, brettert der Fahrer in einem Affenzahn noch 35 Kilometer über eine breite Schotterstraße bis nach Chuschir – das größte Dorf auf Olchon. Die Räder poltern über die harten Bodenwellen. Der feine Staub von der Straße wirbelt durch die Ritzen an der Heckklappe und verteilt sich im Bus. Einige Fahrgäste husten. Hinten kippt durch das Gerüttel der Stapel mit dem Gepäck in den Gang. Und links von uns blitzt immer wieder der Baikalsee auf.
Die Straßen in Chuschir sind genauso sandig wie auf dem Rest von Olchon. In dem Dorf leben etwa 1.300 Menschen. Es gibt eine Schule, eine Kirche, mehrere Gasthäuser, ein modernes Café mit Ausblick, ein paar kleine Geschäfte und einen Supermarkt. Drumherum verteilen sich die eingezäunten, sibirischen Holzhäuser der Bewohner. Erst vor zwölf Jahren wurde der Ort ans Stromnetz angeschlossen. Später folgten noch Telefon- und Internetempfang. Seitdem boomt Chuschir als Ausflugs- und Ferienort. Fließendes Wasser gibt es allerdings nach wie vor nicht. Tankwagen beliefern die Häuser mit Wasser aus dem Baikalsee.
Dort, wo das Dorf auf den dichten Nadelwald trifft, lässt uns der Marschrutkafahrer an einem zweistöckigen Holzhaus aussteigen. Hinter dem Hoftor versteckt sich ein kleines Ferienlager. Die nette Besitzerin vermietet uns ein Zimmerchen über dem gemütlichen Speisesaal, in dem der Usbeke Maschchur und seine Frau morgens um neun und abends um sieben in ihrer herzlichen Art das Essen durch die Luke reichen. Acht Tage lang sind wir hier zuhause – zusammen mit einer Schulklasse aus Irkutsk, die uns bei jeder Mahlzeit höflich auf Englisch begrüßt.
Wir erkunden das Dorf und die spektakuläre Küste der Insel. An den felsigen Buchten leuchtet das klare Baikalwasser türkisgrün. Weit hinten am Festlandufer schwebt an manchen Tagen ein zarter Nebel über dem See. Dahinter zeichnen sich bewaldete Berge ab, auf deren Spitzen noch etwas Schnee liegt. Der Felsen an der Bucht vor Chuschir ist für die Burjaten und Schamanen der heiligste Ort am Baikalsee. Mit etlichen bunten Bändern umwickelte Holzpfähle und Bäume erinnern an die Ahnengeister. Die gläubigen Burjaten lassen hier Geldmünzen fallen, um ihre Verstorbenen um Glück oder Vergebung zu bitten.
Glück haben wir auch: mit dem Wetter. Am Tage ist es sommerlich warm. Und jetzt, Mitte Juni, findet auf dem Festland am Westufer des Baikals sogar noch ein zweitägiges Volksfest statt. Höhepunkt ist der Tanz der Schamanen und Burjaten um den heiligen Hügel „Erd“ herum. Dazu müssen sich mindestens 700 Menschen an die Hände nehmen. Wir besuchen das farbenfrohe Fest unter freiem Himmel – eine Mischung aus Jahrmarkt, Trachtenschau, Sportereignis und eben Tanz. Die Männer messen ihre Kräfte beim Bogenschießen, Ringen und Stockziehen. Die Frauen präsentieren Schmuck und Kleider. Der traditionelle Kreistanz, bei dem wir uns gerne eingereiht hätten, findet leider erst am nächsten Tag statt. Wir müssen aber schon zurück nach Olchon. Vorher reicht man uns ein Stück Fisch und ein Gläschen Tarasun. Der burjatische Schnaps brennt im Rachen und schmeckt nach Schafstall. Vor dem Herunterkippen müssen ein paar Tropfen aus dem Glas an die Geister verspritzt werden.
Bevor wir uns vom Baikal verabschieden können, müssen wir mindestens einmal abtauchen. Dem See werden magische Kräfte nachgesagt. Und wer nicht in ihm gebadet hat, hat den Baikal nicht erlebt, heißt es. Als wir aus dem Wasser kommen, durchflutet uns tatsächlich ein wohliges Gefühl. Wir sind glücklich. Und das ist kein Wunder, denn der Baikal ist schmerzhaft kalt und unser Blut kräftig in Wallung geraten.
Als wir wieder in Irkutsk am Bahnhof stehen und auf die Transsib nach Krasnojarks warten, träumen wir davon, eines Tages im Winter zurückzukommen. Dann verkriechen wir uns in eine Hütte am Ufer des tief vereisten Baikals und lassen seine Magie auf uns wirken.

Transsib: Schweinespeck im Vierbettabteil

19. Juni 2017. Bis Krasnojarsk am Jenissei ist es nur eine Übernachtung weit. Diesmal reisen wir im Großraum ohne Abteil. Hier in der 3. Klasse, auch Platzkartny genannt, ist es stickig. Um uns herum haben es sich sechs russische Jugendliche auf den Liegen bequem gemacht. Wodkaflaschen sehen wir keine. Sie vertreiben sich den Abend mit Smartphone und Laptop. Nicht mal geschnarcht haben die Jungs.
In Krasnojarsk steigen wir für anderthalb Tage aus. Die Uhr stellen wir um eine Stunde zurück. Es sind 35 Grad und uns zieht es raus in die Natur. Wir spazieren durch einen grünen sibirischen Dschungel auf den Hügeln am Rande der Stadt. Danach sind wir bereit für die letzte und längste Etappe im Zug: 62 Stunden und 48 Minuten lang werden wir bis nach Moskau fahren.
Als wir unsere schweren Taschen in den Zug hieven und im Viererabteil verstauen, rennt uns der Schweiß übers Gesicht. Im Wagon staut sich die heiße Luft. Die Klimaanlage kommt erst bei voller Fahrt in Gang. „Privjet. Menja sawut Michael!“ begrüßt Micha die beiden Typen, die das Abteil mit uns teilen. Alexej und Roman sind zwei Eisenbahntechniker aus Dagestan und auf dem Weg nachhause. Als sich die Luft im Zug etwas abkühlt und die Schweißtropfen wegtrocknen, kramt Alexej kühles Mineralwasser, fetten Schweinespeck, frisches Brot, Tomaten und Gurken aus der Tasche hervor. Es ist der Anfang einer lustigen und netten Reise, in der wir von den beiden köstlich versorgt werden. Unsere Versuche, sich zwischendurch zu revanchieren, werden kategorisch abgelehnt. An manchen Bahnhöfen springt Alexej aus dem Zug, um schnell eine neue Biersorte aufzutreiben, die er mit Micha verkosten kann. Immerhin sei er als Deutscher der beste Bierkenner, meint Alexej. Auch wenn unsere Russischkenntnisse meist nur eine Aneinanderreihung von Vokabeln möglich macht, kommen irgendwie Gespräche zwischen uns zustande. Und ein Bierchen erleichtere jede Fremdsprache, lacht Alexej.
Tag um Tag drehen wir unsere Uhren ein Stück zurück. Nur die Moskauer Zeit, die den Zugfahrplan bestimmt, bleibt. Da wir in die Zeit zurückreisen, sind die Tage im Zug lange hell. Jeder schl­äft so, wie es die Müdigkeit verlangt. Ein Blick aus dem Fenster zeigt tatsächlich immer die selbe Landschaft: grüne Hügel oder Birkenwälder, dazwischen ab und an ein Dorf. Und manchmal der Bahnhof einer Stadt.
Unsere Bücher sind ausgelesen, die Teevorräte aufgebraucht. Nicht mehr lange bis zur Endstation. Die Uhr wurde seit Krasnojarsk vier Stunden zurückgestellt. Alexej und Roman haben sich frisch gemacht, neue Sachen angezogen und die Schuhe geputzt. In Moskau seien die Leute schick und arrogant, sagen sie. Bevor ihr nächster Zug sie nachhause bringt, wollen sie noch schnell die Stadt erkunden. Ausgeruht und gut gelaunt stehen wir nun in Moskau auf dem Bahnsteig. Es ist halb sechs am Morgen und die Sonne scheint. Wir sagen unseren russischen Freunden „Doswidanja!“ und „Zschastliwo!“ und sind schon gespannt auf Natasha, bei der wir die nächsten Tage wohnen werden.

„I follow the Moskva, down to Gorky Park“

Zum ersten Mal probieren wir eine Unterkunft über Couchsurfing aus: Menschen in der ganzen Welt bieten Reisenden übers Internet eine kostenfreie Bleibe an. Und Natasha ist einer von ihnen. Sie lebt am Stadtrand von Moskau, in der Wohnung ihrer Kindheit. Sofern sie nicht selbst mit dem Rucksack in der Welt unterwegs ist. Denn das ist ihre Leidenschaft. Genau wie das Fotografieren. Und noch einige andere Dinge. In wenigen Augenblicken treffen wir also auf eine Frau, mit der wir sicher viel zu erzählen haben.
Im achten Stock des sowjetischen Wohnblocks treten wir aus dem engen Fahrstuhl und stehen jetzt vor ihrer offenen Wohnungstür. Natasha, die demnächst 50 wird, sieht weder wie eine Künstlerin, noch wie ein Rucksackhippie aus. Aber ihre besondere Energie spürt man sofort. Wir freuen uns über ihre freundliche Begrüßung und umarmen uns herzlich.
Noch am selben Tag setzen sich Micha und ich in die berühmte Moskauer Metro und fahren zum Roten Platz. Jetzt stehen wir vor dem Märchenschloss ­mit den bunten Zwiebeltürmen und staunen über dieses schöne Bauwerk, das vom blauen Himmel und weißen Wolken eingerahmt wird. Die Basiliuskathedrale hatte mich als Jungpionierin beeindruckt. Da sahen wir sie nur auf Bildern. Meine Russischlehrerin schwärmte öfter von ihrer Reise nach Moskau – wie extrem sauber die Straßen seien, wie imposant der Kreml. Und wie beeindruckt sie war, mit welcher Ehrfurcht sich täglich hunderte Russen im Lenin-Mausoleum vor dem Vater der Sowjetunion verbeugten. Hier auf dem Roten Platz merken wir, dass die Geschichte dieses Landes auch ein Teil unserer Kindheit ist. Spätestens dann, als wir in einer Schlange von Touristen schweigend an Lenins Leichnam vorbei geschleust werden. Das war ein beeindruckender Anblick und gleichzeitig gehen mir viele Fragen durch den Kopf. Moskau ist ein bisschen eine Zeitreise – Erinnerungen an unsere Kindheit in der DDR leben auf. Micha und ich sprechen über Freiheit, Politik und Propaganda. Über soziale Werte. Wir laufen bei Gewitter durch den Gorki-Park und ich bekomme eine Gänsehaut. „I follow the Moskva, down to Gorky Park, listening to the wind of change…“ Nach einem Konzert in der Sowjetunion schrieben die Scorpions 1989 die Hymne der großen Wende. Für Natasha bedeutete die Auflösung der Sowjetunion erst einmal glanzlose Jahre. Trotzdem war es eine gute Erfahrung, erzählt sie uns an ihrem Küchentisch. Die Leute hätten sich gegenseitig geholfen und aus zu wenig das beste gemacht. Die Straßen waren voller Menschen, die irgendetwas verkauften, um über die Runden zu kommen. Ganz Moskau sei ein riesiger Basar gewesen, lacht Natasha. Micha und ich dagegen wurden erwachsen in einer aufblühenden Konsumwelt und uns schienen alle Wege offen zu stehen.

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Keine Emmen in Moskau

25. Juni 2017. Morgen sollen unsere Motorräder aus Kambodscha am Moskauer Flughafen landen. Unsere Emmen auf dem Roten Platz – das wäre ein geiles Bild! Aber der Spediteur hat heute leider schlechte Nachrichten für uns. Die beiden Kisten hätten nicht mehr in das Flugzeug gepasst. Dabei stand der Termin für den Abflug seit Wochen fest. Es ist der Anfang einer Odyssee, die wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen können. Der nächste mögliche Flieger könnte erst in zehn Tagen in Moskau sein, heißt es. Da unsere Russland-Visa vorher enden und sich keinesfalls verlängern lassen, ist Moskau als Anflugort gestorben. Plan B sieht es vor, dass die Motorräder über einen Umweg nach Kiew transportiert werden.
Am 2. Juli begleitet uns Natasha, die uns eine ganze Woche lang bei sich zuhause aufgenommen und so viele spannende Dinge gezeigt hat, zum Kiewer Bahnhof. большое спасибо, Natasha!

> So geht`s weiter: Durch die Walachei nachhause
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Die ganze Reise im Überblick – mit Route, allen Reisegeschichten und Bildern:
Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad

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Russland: Durch Kalmückien zum Wolgadelta /kalmueckien-wolgadelta-russland-2016/ /kalmueckien-wolgadelta-russland-2016/#comments Wed, 29 Jun 2016 15:15:01 +0000 /?page_id=8408 Kalmückien: Alter Churul Elista

Buddhistischer Tempel (Alter Churul) kurz vor Elista, Russland 2016 © emmenreiter.de

Geduldsprobe russische Grenze

20. Juni 2016, morgens um halb neun. Wir haben gerade eine Menge Lastwagen überholt und sind nun an der georgisch-russischen Grenze bei Dariali. Der Himmel ist blau. Perfekt. In drei Tagen wird heftiger Regen einen 800 Meter langen Erdrutsch auslösen und die Straße nach Russland für unbestimmte Zeit blockieren. Wir sind also nicht zur falschen Zeit am falschen Ort.
Der georgische Posten ist in fünf Minuten passiert – wir müssen noch nicht mal absteigen. Jetzt noch zügig durch den maroden Tunnel zur russischen Seite und hoffen, dass es hier genauso flutscht. Eine Menge Autos und Lastwagen warten an diesem Montagmorgen in vier Spuren auf die Pass- und Gepäckkontrolle. Man schleust uns ganz nach vorne durch und platziert uns zwischen zwei Spuren. Pole position – wunderbar! Die Sonne wärmt und wir warten darauf, dass wir bald von den Grenzern zur Abfertigung herangewunken werden. 30 Minuten lang tut sich allerdings erstmal gar nüscht und wir werden Zeuge des gemütlichen Schichtwechsels an der Grenze. Eine weitere Stunde später fragen wir uns, ob wir den linken oder rechten Posten anfahren dürfen. Und vor allem, wann. Auf der rechten Spur neben uns winkt der Grenzsoldat einen Wagen nach dem anderen zur Kontrolle durch. Uns ignorieren sie. Wir warten weiterhin artig ab. Auf der linken Spur ist die PKW-Schlange komplett ins Stocken geraten – es ist die Spur für all jene, die keinen russischen Pass besitzen. „Was machen die da? Warum dauert das so lange!?“ Von den lächelnden Beamten macht sich keiner die Mühe, den Vorgang zu beschleunigen. Schnaufend hole ich den aufgeweichten Snickersriegel aus meinem Tankrucksack. Ja, ich weiß! In den nächsten Wochen werden wir noch viel Zeit vor zentralasiatischen Schlagbäumen verbringen und Russland wird nicht der schlimmste Übertritt sein. Nach drei Stunden in der Sonne, in denen wir stumm und ungewiss auf die zähe Abfertigung geglotzt haben, ist meine Geduld dennoch allmählich aufgebraucht. „Zwei Leute arbeiten und 15 lungern rum!“, brubbel ich mit übler Laune. Dann sind wir endlich an der Reihe und nach insgesamt fünf Stunden fahren wir ermüdet davon. Da hätten wir noch Glück gehabt, erzählen uns Einheimische hinterher.
Russland empfängt uns sofort mit einem heftigen Gewitter. Muss ich wirklich noch erwähnen, wie motiviert wir sind? 300 Kilometer müssen jetzt noch abgeritten werden. Da die Sicherheitslage im Nordkaukasus fragil ist, wimmelt es vor Polizeiwagen, die sich teilweise wie Raubtiere auf die Lauer legen. Dass Touristen, die man bei einem Regelverstoß erwischt, einem Lottogewinn gleichen können, ist uns nicht neu. Wachsam fahren wir an allen Streifenwagen vorbei. Nur 20 Kilometer vor unserem Ziel Budjonnowsk – es dämmert bereits – blitzt dann das Blaulicht im Rückspiegel. Zwei schmierig grinsende Polizisten stoppen uns, kassieren unsere Führerscheine ein und bitten Micha in Mafiaboss-Manier zur Verhandlung im Wagen Platz zu nehmen. Wir hätten das Überholverbot missachtet und hier ist das Beweisvideo! Eine durchgezogene Linie auf dem Asphalt gab es zwar nicht – wohl aber ein temporäres Verkehrsschild. „Sechs Monate Fahrverbot“, freuen sich die Uniformierten über ihre eindeutig stärkere Verhandlungsposition. „Tausend! No Protokoll.“ lautet ihr Angebot. Die meinen tatsächlich US-Dollar. Ich bin froh, dass Micha die Sache noch recht freundlich regeln kann. Stinksauer krame ich die Scheine aus dem Gepäck. Jeweils hundert Dollar stecken die zwei Gauner im Streifenwagen am Ende ein. Nach dieser unerfreulichen Begegnung fahren wir in den Sonnenuntergang davon und versuchen, die Sache möglichst schnell abzuhaken.

Freunde in Budjonnowsk

Im Reiseführer ist Budjonnowsk mit keiner Silbe erwähnt. Google spuckt als erstes eine grausame Geiselnahme im Jahr 1995 aus. Die Stadt mit 65.000 Einwohnern liegt auf unserem Weg nach Kalmückien und das nagelneue Ferienapartment, das wir im Internet gefunden haben, ist günstig und hat jeden Komfort. Allerdings versteckt es sich auch gut und so fragen wir an einer Autowerkstatt nach dem Weg. Iwan, den wir hier antreffen, entpuppt sich sogleich als unser Vermieter. Er führt uns freudig zum Apartment. Danach bringt Iwan wie selbstverständlich noch eine frische Pizza, ein paar Flaschen kühles Bier und ein Handy vorbei, über das wir ihn jederzeit erreichen können. Drei Tage lang kümmern sich Iwan und seine Frau Lena rührend um uns. Unser Schulrussisch ist zwar zu einer stümperhaften Aneinanderreihung einzelner Vokabeln verkommen, aber irgendwie reicht es für eine Verständigung. Die Zahlen ausgenommen fallen mir immerhin etwa hundert Wörter ein, die uns passabel durchbringen.
Am Tage brennt die grelle heiße Sonne auf Budjonnowsk und wir sind kaum draußen unterwegs. Die provinzielle Stadt mit ihren flachen Häusern und langen Straßen, die wie ein Gitternetz verlaufen, ist uns sympathisch. Aber außer einem See und auffallend vielen Lebensmittelgeschäften in allen Größen gibt es hier nicht viel zu erkunden. Unsere Highlights sind Iwan und Lena. Mit ihnen, ihrem Sohn Dimitri und Motorradkumpel Maxim verbringen wir einen lustigen Abend bei Essen, Tschai und Kognak. Iwan, der so alt ist wie Micha, packt zwischendurch noch seine E-Gitarre aus. Sting sei sein großes Vorbild. Am liebsten wäre er Rockstar geworden.
Am nächsten Tag starrt Micha auf sein Telefon: „Aus Sicherheitsgründen mussten wir soeben Ihre Kreditkarten sperren.“ Und zwar alle. Nach ein paar Telefonaten mit der Bank sagt man uns, der Grund sei ein gehackter Geldautomat – in Berlin. An dem hatte Micha vor der Reise die neuen Karten ausprobiert. Das ist fast fünf Monate her. Die Sicherheitsabteilung der Bank hat auf Nachfrage wenigstens eine der Karten wieder freigesschaltet, so dass wir an Bargeld kommen können. Neue Kreditkarten dürften aus Sicherheitsgründen nicht ins Ausland verschickt werden, auch nicht bei Reisekreditkarten wie unseren.
Als das erledigt ist, putzt Micha beide Motorräder. Dabei holt er sich einen bösen Sonnenbrand am ganzen Rücken, der uns noch Tage lang beschäftigen wird. Ich trau mich nicht, das Foto zu zeigen. Als wir mit glänzenden Emmen in die Hauptstadt Kalmückiens, nach Elista, aufbrechen, lässt es sich Iwans Freund Maxim nicht nehmen, uns auf seiner Kawasaki bis an den richtigen Abzweig außerhalb der Stadt zu eskortieren.

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Kalmückien: Ein Stück Mongolei in Russland

Schon mal von Kalmückien gehört? Die autonome russische Republik ist besiedelt von Menschen, deren Vorfahren vor etwa 400 Jahren aus der Mongolei an die Wolga kamen. Das Steppenland ist die einzige buddhistische Region Europas. In Elista steht der größte Buddha-Tempel im Okzident – der Churul.
Wir wählen von Budjonnowsk aus den kürzesten Weg – 200 Kilometer nach Norden, durch die Einöde. Ab dem Städtchen Arsgir landen wir auf einer feinsandigen Piste, die sich immer wieder teilt. Bald sind wir nicht mehr sicher, welcher der Autospuren wir folgen sollen. 40 Kilometer lang eiern wir bei gnadenloser Hitze durch die glühende Steppe, denn auch die Navi-App ist überfordert. Micha fragt einen scheuen Hirten auf seinem stolzen Pferd. Der weiß auch nicht, wohin er uns schicken soll. Wir starren ratlos in die blühende Büschel-Ebene in zartem Grüngrau, Altrosa und Goldgelb.
Die Pfade führen uns drei, vier mal über ein scheinbar verlassenes Gehöft. Unsere Motorräder scheuchen schon von Weitem die traurigen Wachhunde an der Kette auf und ihre freilaufenden Kollegen verjagen uns aus dem Revier. Dabei ließen sich hier so schöne skurrile Fotos machen: Ein verlassener Russentraktor als einziger greller Farbklecks. Riesige Schafe drängen sich im Schatten einer Häuserwand. Ein stolzer Truthahn steht auf der rostigen Kofferraumhaube eines ausrangierten Ladas. Ein goldbrauner Staubwirbel tanzt über den menschenleeren Hof.
Wir folgen den Strommasten und landen nach fast drei Pistenstunden auf einer asphaltierten Trasse, die uns ans Ziel führt. In Elista öffnet Mütterchen Tatjana das graue Eisentor zu ihrem Hof in einer stillen Wohnsiedlung. Sie begrüßt ihre eingestaubten, müden Gäste mit Keksen und Tschai und lächelt uns durch ihre zentralasiatischen Augen an.
Heftiger Wind und ein kurzes Gewitter haben die Stadtluft für den nächsten Tag abgekühlt. Wir besuchen den alten und neuen buddhistischen Tempel, laufen durchs kühle, leere Nationalmuseum, essen Eis im Park und beobachten Kinder beim Nationalsport der Kalmücken – dem Schachspiel. Zum Abendessen gibt es gefüllte Teigtaschen. Die Kalmücken nennen sie Böriki. Teigtaschen haben die ganze Seidenstraße erobert.
Wir wollen weiter ins Wolgadelta. Nur noch schnell zur Post und los gehts. „Adin marka, Germania, paschalsta„, bitte ich den jungen Mann hinter dem Tresen der Post, und zeige ihm dabei unsere Postkarte vom Tempel Churul. Der dreht und wendet die Karte. Er weiß nicht, was er damit anfangen soll, weil sie noch unbeschrieben ist.
Dann blättert er in einem Katalog. „35 Rubel“, sagt er. Danach will er meinen Namen wissen – der müsse auf die Karte. Na gut. „Und jetzt der Empfänger bitte!“ Logisch. Als ich meine Postkarte zurückhaben möchte, um unsere Grüße darauf loszuwerden, bekritzelt er den Rest erst noch mit der Kennzeichnung des hiesigen Postbezirks. Es verwundert ihn, dass ich auch etwas auf die Karte schreiben möchte, aber für zwei Zeilen ist ja gerade noch Platz. Laura – bitte sag uns, ob die Post bei Dir angekommen ist!

Astrachan – Verkriechen am Wolgadelta

Gott sei Dank, die Mückenplage ist gerade vorbei. Jedes Jahr fallen im Juni ganze Schwärme über das Delta her und saugen alles aus, was Blut in den Adern hat. In den letzten Tagen hatten uns viele davor gewarnt, dass wir echt Angst bekommen haben. Während der Fahrt nach Astrachan sah ich mich schon schweißgebadet in voller Motorradmontur durch Mückenwolken laufen – nur schnell zum Lebensmittelladen, dann ins klimatisierte Apartment und schnell weiter nach Kasachstan. Aber zum Glück ist es nicht so.
Wir sehnen uns beide gerade nach einer Pause vom Unterwegssein und ziehen uns vier Tage lang in die kleine, sanierte Wohnung im fünften Stock eines alt-sowjetischen Wohnblocks zurück. Mehr brauchen wir gerade nicht. Auch keinen Ausflug ins Delta bei 38 Grad im Schatten. Einfach nur Frühstücken, Wäsche waschen, Schreiben, Lesen, Dokus gucken, Yoga machen und Michas verbrannten Rücken pflegen. Der häutet sich wie eine Schlange, nachdem die vom Schweiß aufgeweichten Blasen auf der Haut endlich ausgetrocknet sind.
Ein Behördengang steht an. Spätestens am siebten Werktag nach Einreise in Russland müssen wir uns registrieren lassen. So haben wir das zumindest verstanden, denn jeder erzählt uns etwas anderes. Um Ärger zu vermeiden, wollen wir das einfach erledigen. Was wir nicht wussten ist, dass der Vermieter des Apartments als Gastgeber ebenfalls auf dem Amt erscheinen muss. Am Ende lungern wir fast vier Stunden in der Poststelle herum, bis die Beamtin den entsprechenden Papierkram bearbeitet hat – für jeweils 500 Rubel, rund sieben Euro.
Mit dem fraglichen Zettel im Reisepass und aufgetankt mit neuer Reiselust steuern wir am 30. Juni 2016 morgens um halb sechs Kasachstan an. Um sieben stehen wir in der relativ kurzen Schlange am Schlagbaum in Kotjajewka – bereit für das Grenzprozedere und die kommende Durststrecke bis Atyrau. Die russischen Grenzer winken uns nach vorne durch: ab an die Kabine zur Passkontrolle, noch ein schneller Stempel vom Zöllner – ganz ohne Gepäckkontrolle – und „Good bye!“. Überrumpelt von der zügigen Abfertigung knattern wir die paar Kilometer zum kasachischen Posten weiter. Wir werden erst Monate später feststellen, dass bei Micha der Ausreisestempel neben dem Visum fehlt, was die Beantragung eines neuen Russland-Visums schwer macht.

> So geht`s weiter: Durststrecke: Von Kasachstan nach Karakalpakstan
< Vorherige Reisegeschichte

Die ganze Reise im Überblick – mit Route, allen Reisegeschichten und Bildern:
Asienreise, die Zweite: Auszeit auf dem Motorrad

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